Stephen Greenblatt
Der Tyrann
Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert
Aus dem Englischen von Martin Richter
Siedler Verlag, München, 3.A. 2019
219 Seiten
Die Beschäftigung mit Shakespeare kann ein ganzes Leben füllen, es wäre ein ausgefülltes Leben. Stephen Greenblatt, Lehrstuhlinhaber in Harvard, führender Theoretiker des New Historicism, international geschätzter Shakespeare-Fachmann, legt mit diesem Titel eine Motiv- und Handlungsschau des Tyrannen vor, die Shakespeare nicht nur als profunden Dramatiker, sondern als ebensolchen Psychologen ausdeutet, der sowohl in Figur und Handlung als auch der kalkulierten Publikumsreaktion Finesse und Einfühlungsvermögen zeigt.
Das elisabethanische Zeitalter (16. / 17. Jahrhundert) brachte eine enorme Fülle insbesondere an dramatischen Werken hervor, die nicht selten das Lebensgefühl des Publikums ausdrückten und damit zugleich gesellschaftliche Entwicklungen behandelten, die an anderer Stelle geäußert, leicht den Verlust von Körperteilen oder gleich des Lebens bedeuten konnten. Der Dramatiker musste mithin seine (politischen) Aussagen geschickt verklausulieren, in frühere Zeiten oder andere Länder verlegen, um der Zensur zu entgehen und zugleich Zuschauer für die Aufführung zu gewinnen.
Es galt mithin der aristotelischen Poetik zu folgen und im Besonderen von Figur und Handlung das Allgemeine, das Überzeitliche zu erkennen. Die Besucher der Vorstellungen sollten mit dem Gefühl und der Erkenntnis nach Hause gehen, ihre eigenen (zeitgebundenen) Verhältnisse im Stück durchscheinen zu sehen.
In zehn schmalen Kapiteln zeigt Greenblatt die wesentlichen Charakteristika tyrannischer Persönlichkeiten auf. Tyrannen verfügen über etwas Faustisches, sie haben einen direkten Draht zum Teufel. Blut ist ein ganz besonderer Saft, besiegelt mit ihm den Pakt zur Macht. Macht im ausschließlichen Interesse des Tyrannen, der nicht selten das Land und die Menschen in den Abgrund reißt. Doch der Machtwahn dieser Politiker geht noch weiter: Ihnen ist er ein Rausch, gleich sexueller Befriedigung oder der sadistischer Bedürfnisse. Das Bedrückende dabei: Es gibt immer willige Helfer, Förderer, Eiferer und andere Unterstützer, die den Tyrannen auf den Schild heben. In diesen Tagen: ausufernde Brutalität im Krieg Russlands gegen die Ukraine, immer wieder neue Formen pervertierter Macht. Die Kernfrage für Shakespeare lautet: Wie kommt es dazu, Figuren wie Richard III, Macbeth oder Coriolan als mächtigste Person im Staat zu installieren? Die Aktualität dieser Frage muss im Hier und Heute betrüben, Stichworte sind „illiberale Demokratie“ (Ungarn), das Instrumentalisieren der Justiz (Polen), die Einsetzung einer postfaschistischen Regierungspartei (Italien). Die Krise der westlichen Demokratie ist allenthalben mit Händen zu greifen. In den USA deutet sich die Rückkehr des unfähigsten Präsidenten in der Geschichte des Landes an. Grennblatt hatte diese Entwicklung vor Augen, im ganzen Buch blickt uns zwischen den Zeilen ein gewisser DT entgegen. Doch auch er war nicht allein der Totengräber der ältesten Demokratie der Neuzeit, und er wird es bei seiner (möglichen) Rückkehr auch nicht sein.
Ein Blick in die fundierte Analyse Greenblatts zu Shakespeares Figuren macht uns staunen. In den kurzen Abschnitten stellt er jeweils eine Figur in den Mittelpunkt der Analyse und kontextualisiert diese dann. Richard III als verkrüppelter Monarch, der von Kindesbeinen an gelernt hat, seinen Willen gegen alle Widerstände durchzusetzen, der einen sexuellen Befriedigungskosmos in der Macht lebt, sadistischen Befriedigungen frönt, ein prototypisches Bild eines Soziopathen gibt. Oder Macbeth, der seine dunklen Leidenschaften zunächst zu beherrschen weiß, bis Lady Macbeth ihn so manipuliert, dass er alle Zurückhaltung und Selbstreflexion fahren lässt und zum wütenden, mordenden Monster wird.
Was macht nun einen Tyrannen aus? Grundlage eines Psychogramms ist zumeist eine narzisstische, psychopathologische Störung des Charakterbildes. Tiefe Verunsicherung der eigenen Person gegenüber, Misstrauen in die soziale Umgebung, die kontinuierliche Suche nach Lüge und Verstellung bei anderen Menschen, während gerade diese Verhaltensweisen ihm selbst Instrumente seiner Macht sind. Ein kindisches Zurückweisen jeglicher Kritik, verbunden mit tiefer Verletzung bei Widerspruch. Ist eine sozial adäquate Herrschaft gekennzeichnet von Durchsetzungsfähigkeit, kritischer Selbstreflexion, so schlägt beim Despoten ersteres in machtvolle Aggression, der jeder zum Opfer fallen kann, um. Letzteres in weinerliches Selbstmitleid, das wiederum in Aggression münden kann. Manipulation ist sein Tagesgeschäft, ebenso die Verdrehung der Wirklichkeit (Fake News). Er konstruiert so lange, bis die Realität seinen Wünschen gemäß erscheint, seine Umgebung darin einstimmt und danach handelt! Es sind die immer gleichen Narrative von Verschwörung und Unterwanderung, von Feinden, die das Reich bedrohen. „Shakespeare zeigt wiederholt Nebenfiguren – etwa die Gärtner in Richard II., namenlose Londoner in Richard III., Soldaten am Vorabend der Schlacht in Heinrich V., hungernde Plebejer in Coriolan, zynische Untergebene in Antonius und Kleopatra -, die Gerüchte weitergeben und Staatsangelegenheit diskutieren. Solche Reflexionen der kleinen Leute über ‚die da oben‘ erzürnen die Elite: ‚Los, schafft euch heim, ihr Brösel‘, schnauzt ein Adeliger eine Gruppe von Aufrührern an (Coriolan, I, I, 218). Doch die ‚Brösel‘ (‚fragments‘) ließen sich nicht zum Schweigen bringen.“
Greenblatt führt uns unterhaltsam und erkenntnisleitend durch die Hauptdramen und spannt ein Panorama von der Antike (Julius Cäsar, Antonius und Kleopatra) bis zum englischen Bürgerkrieg (Heinrich I – VI, Richard III). Anmerkungen, ein Register historischer Personen sowie ein Verzeichnis der Dramen runden den spannenden Band ab.
Ingo-Maria Langen, November 2022