Martin Schleske, Der Klang
Mit Bildern von Donata Wenders
Goldmann: 2. A. 2014
TB, 446 S., 12,99.- €
Martin Schleske ist ein vielseitig begabter Mensch. Neben seinem Talent zu einem der international führenden Geigenbauer ist der diplomierte Physikingenieur ein begnadeter Erzähler, dessen Sachbuch sich liest wie anspruchsvolle und doch gut lesbare Belletristik. Deshalb möchte ich mir die Mühe machen und sein Buch in einigen Kapitelauszügen vorzustellen, um ihnen einen Vorgeschmack auf ein Buch zu bieten, das zu den wenigen zählen kann, die einen über ein ganzes Leben hinweg begleiten – immer wieder.
Von der Theologie des inneren Klangs
„Die Menschen haben die Fähigkeit verloren, das Buch, nämlich die Welt, zu lesen. Darum war es nötig, ihnen ein anderes Buch zu geben, das sie erleuchte, auf dass sie die Gleichnishaftigkeit der Dinge verstehen, die zu lesen sie nicht mehr fähig waren. Dieses andere ist die Heilige Schrift, die uns Gleichnisse der Dinge vorlegt, die in der Welt geschrieben stehen.“ (Bonaventura) – Wir verstehen bereits über die einleitenden Worte, worum es Schlekse gehen soll: die Verbindung der christlichen Botschaft mit der Faszination des Klangkörpers, der Eigenschaft des Lacks, der Harze, der Wölbungen in ihrer tiefen Verbindung zur Schöpfung.
Es bedarf einer reichen Erfahrung in der Natur wie in der Verarbeitung von Holz, um einen „Sängerstamm“ zu finden. Es gilt die alten Stämme zu prüfen, jene die langsam gewachsen sind, deren Biologie sich mit konsolidierenden Schritten entwickelt hat. Diese lassen sich prüfen mit einem Schlag der stumpfen Seite der Axt, um ihre Schwingungen und ihren Klang zu erfühlen und zu hören. Es geht darum, Klangholzqualitäten aufzuspüren, die dem späteren Instrument seine Einzigartigkeit verleihen. Auf der Suche nach diesem Holz finden wir uns unversehens auf einem Pilgerweg, auf der Suche nach Gott selbst. Denn nur mit wachem Verstand und brennendem Herzen können wir suchen. Nur dann trägt unser Glaube uns und wir wachsen mit ihm: „Bittet, so wird euch gegeben werden; suchet, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan“ (Mt. 7,7). Ich muss mir Mühe machen, Hindernisse überwinden, Widrigkeiten bewältigen, das ist die liebende Suche Gottes, nicht das sterile religiöse Bekenntnis. Das zeigt auch die Physik: je nach Erkenntnisgegenstand muss ich meine Methode ausrichten. Wenn wir die Stämme betrachten, ihren Schnitt, den Faserverlauf, hören wir den Klang bereits innerlich und es entsteht vor dem Herzen und dem geistigen Auge das Instrument, dessen Klang wir voraushören. Aus dieser inneren Berufung wird dann die Fertigkeit im äußeren Talent.
„Als Geigenbauer entwickelt man im Laufe der Jahre ein starkes Einfühlungsvermögen in die Struktur des Holzes. Man bekommt einen Blick für den Verlauf der Jahresringe, beurteilt Gleichmäßigkeit, Glanz, Dichte und Spätholzanteil. Immer wieder fesseln mich die Zeichnung der Flammen und der klare Verlauf der Markstrahlen“, erzählt Schlekse. In den Bäumen erkennen wir ein Urelement des Lebens. Sie begleiten uns als Baustoff, materiell wie immateriell. Als Instrumente aus ihrem Holz erweitern sie unseren Zugang zur Welt, zum Kosmos. In Kalifornien findet sich ein Exemplar der Bristelcone Kiefer (Metuschelach), das älter als 4770 Jahre ist. Der Name geht zurück auf die Geschlechteraufzählung bei Lukas 3, 37. Neuere Forschungen weisen indes auf einen Baum in Schweden hin, der nahezu Zehntausend Jahre alt ist. Was für Zahlen in einem so knapp begrenzten Menschenleben. Und jeder Stamm schließt das Charisma eines zukünftigen Klangs in sich ein. Bereits wenn die gefällten oder durch Windbruch umgebrochenen Stämme talwärts rollen und dabei anschlagen, kann man vielleicht bei einem von ihnen jenen „Glockenschlag“ vernehmen, der uns das Potential, das Charisma des Holzes verrät. – Das ist dann der Sängerstamm.
Schleske verwendet Bergfichte für die Geigendecken und den Bassbalken, Bergahorn für Zargen, Boden und Schnecke, Ebenholz für Griffbrett und Wirbel, Weide oder Fichte für Futterleisten und Zargenklötze. Alle Hölzer haben eine lange Zeit der Reife in seiner Werkstatt hinter sich, bevor sie für den Bau eines Instruments verwendet werden. Daraus wie auch aus der Zusammenstellung weiterer Hölzer ergibt sich seine eigene optische „Handschrift“. Der Meister arbeitet in Gleichnissen, immer wieder bezogen auf die Bibel und christliche Horizonte, aber auch die Mathematik und Philosophie werden in solchen Gleichnissen bemüht. Etwa für die Erklärung der Form. Bereits die Antike erkannte die Entwicklung der Harmonie aus der Form des Gegensatzes: rechts-links, gerade-ungerade, endlich-unendlich… Daraus entsteht ein Spannungsverhältnis, welches den Bezug der Gegensätze untereinander ausdrückt und zur Grundlage für die Symmetrie im Kanon der griechischen Klassik wird. Daran schließt die Frage an: welche Linien sind spannungsgeladen und führen doch zu ausgewogenen Formen? Der Schlüssel dazu liegt im Musterbruch: sowohl in der Optik als auch in der Akustik. Wir folgen zunächst einer klaren Linie, einem Radius, einer Tonfolge. Bevor wir nun in Gewöhnung verfallen, gibt es eine unerwartete Änderung im Verlauf, eine Änderung zwischen Vertrautheit und Überraschtheit. „Sie bilden einen harmonischen Gegensatz. Harmonisch sind diese beiden Elemente nur darum, weil sich in ihnen das Gegensätzliche zu einem Ganzen vereinigt.“ Ganz im Sinne platonischer Tugendlehre: „Ohne Vertrautheit des Musters entartet die Überraschtheit in Willkür. Ohne Überraschtheit des Musters entartet die Vertrautheit zur Langeweile.“ Dieser doppelte Abgrund entfaltet den Spannungsbogen der Harmonie. Wir beginnen dann in einer Art des inneren „Voraushörens“ uns auf diese gespiegelt Dialektik einzustellen und ihrem Spannungsreiz hinterher zu spüren: „Musik baut unentwegt emotionale Versprechungen auf. Unser Bewusstsein erlebt beim Musikhören sich selbst (aufgebaute Erwartung) und die Welt (erlebte Erfüllung) in einem ständigen Wechselspiel. Musik spielt mit uns.“
Uns werden Gegensatzpaare bewusst: Leidenschaft und Gelassenheit als seelische Paare. Darin geborgen ihre tiefe Gefahr. Weite schlägt um in Enge, in Begrenzung des Denkens und Fühlens. „Aus der Verherrlichung des einsamen Guten folgt seelische Enge und Leblosigkeit, denn das einsame Gute ist nicht fähig zur Einheit. Die einsame Leidenschaft, die nichts von Gelassenheit weiß, ist nicht Leidenschaft, sondern Fanatismus. Die einsame Gelassenheit, die nichts von Leidenschaft weiß ist Gleichgültigkeit. So greift den Gleichgültigen nichts an, während der Fanatische sich an allem reibt, besessen ist von einer Idee, blind gegen alles, was nicht dazu passt. Die Missstände warten nur auf sein Eingreifen, glaubt er. Doch letztlich sieht er nur sich selbst. „Fanatismus und Gleichgültigkeit bilden also ebenfalls ein Wortpaar. Doch sie sind ein gefallenes Spiegelbild aus Leidenschaft und Gelassenheit. (…) Jeder macht das Eigene groß. Das ist das Wesen der abgestürzten Gegensätze. Solche Gegensätze, die Einheit nicht wahren, bedeuten Entfremdung. Die harmonischen Gegensätze sind anders: Sie sind aufeinander bezogen. Ihre Beziehung besteht darin, dem Nicht-Eigenen Achtung und Ehre zu geben. Ihr Wesen ist somit die innere Ordnung der Liebe.“ Das Andere wird hier hervorgehoben.
Was ist nun ein Maß für den Klang einer Geige? Es ist die Basis ihrer Eigenschwingung. Wie das Gleichnis der „Klangfarben der Seele“. Etwa die Stradivari von 1721 – noch vor Mozarts Geburt. „Sie klingt gefasst, hat einen klaren Strahl und doch füllt sie in ihrer Räumlichkeit den Saal. Sie ist leidenschaftlich im Ton, aber nie scharf. Der Klang kann sich vollkommen verdunkeln (wie ein muffiges Kellergewölbe) und bleibt doch erkennbar. Diese Geige kann fauchen, ohne je ordinär zu sein. Ihre Süße in den hohen Lagen hat etwas Sinnliches, ohne je kitschig zu sein. Sie spricht (…) nicht nur mit einer Stimme. Es sind unterschiedliche Klangmuster, die hier gleichzeitig wirken.“ Gerade in diesen Widersprüchen, ihren Mehrdeutigkeiten entrinnt sie der Banalität, erhält sie über ihre Modulierbarkeit die Klangfarben des Lebens, in denen man sie bewegen kann. Ein Wogen der Ambivalenz zwischen Wärme und Brillanz: „Die Wärme ist nicht dumpf, die Brillanz nicht scharf, denn Wärme und Brillanz wahren in jedem Ton eine hörbare Beziehung. Sie bilden klanglich einen harmonischen Gegensatz.“
Aus den Resonanzen der Geige wird ihre Klangfarbe erarbeitet. Und sie korrespondiert der Klangfarbe der Seele wie sie die Bibel in verschiedenen Gegensatzpaaren ausdrückt: etwa in Gnade und Arbeit. Hier wirkt das Empfangende – Gnade als Geschenk Gottes an uns, die wir im besten Fall durch unsere Arbeit so ergänzen, dass aus diesem Geschenk ein unsrem Talent Gemäßes entsteht. Das mit Herzblut erarbeitete, was immer es auch sei. Nicht jedem ist das Glück beschieden als Künstler arbeiten zu dürfen. Doch keine Arbeit ist ausgeschlossen. Keine zu gering. Es geht nicht um Überhöhung, sondern Engagement. Und es geht nicht darum, immer perfekt sein zu müssen. Jedoch darum, das Beste leisten zu wollen. Darin steckt die Weisheit. Nicht zu schwärmen ohne in die feste Arbeit zu kommen, noch getrieben zu sein von ihr und damit den Bezug zur Gnade zu verlieren. Dann verlieren wir auch den Bezug zum Empfangen, aus dem heraus aber erst ein gelingendes Leben möglich wird. Denn der Glaube ist als Kernbezug zu Gott wie die Liebe: „Die Dinge werden wachsen, und ihren Reiz bewahren, wenn wir in dem Wechselspiel von Gnade und Arbeit leben. Es bedeutet, das Verheißene erkennen und zugleich uns überwinden, das Gebotene zu tun. (…) Das Wesentliche beruht auf Gnade, und es erfordert zugleich unsere Arbeit. Die Gnade wird sich nie dafür hergeben, die Arbeit der Liebe zu ersetzen, die in jeder Beziehung nötig ist. Denn in der Arbeit erspüren wir unseren Lebensinhalt, wie wir in der Gnade unsere Lebenskraft erfahren. Das eine soll ohne das andere nicht sein.“
Noch ein Blick zurück auf die Gleichnishaftigkeit des Lebens: das Empfangende, aus dem heraus wir leben, lebt in uns auch im Ausdruck der Wahrheit. Jesus spricht vom Heiligen Geist als einer Gabe für den Menschen im Sinne eines zugewandten Trösters. Etwas, das uns aufrichtet, begleitet, den Weg weist: nicht die harte Wahrheit, die nicht bezeugen, sondern nur beweisen will. Je mehr Wichtigkeit dieser beigemessen wird, sich desto mehr kehrt sich ihre Kraft gegen mich, desto weniger bin ich barmherzig gegen andere. Doch es ist gerade die Nahbarkeit, das Weiche (weibliche), das mich befähigt in meinen Beziehungen zu den Menschen als offen und sympathisch wahrgenommen und angenommen zu werden. Schleske formuliert es treffend: „Wir sollen lernen, unseren Gefühlen die Wahrheit zu sagen. Darin zeigt sich die Reife eines Menschen, dass er spürt, wie es ihm geht, und dass er sich doch von seinen Gefühlen nicht treiben lässt. Darum soll die Wahrheit die Gefühle berühren, die uns ein starker Antrieb und eine wirksame Kraft sind, aus der wir leben. Dort soll die Wahrheit uns stützen, stärken, lehren! Im streitsüchtigen, religiösen Denken hat die Wahrheit ihren falschen Ort. Unsere Gedanken sollen fühlen lernen, und unsere Gefühle sollen hören lernen. Dann werde ich nicht glauben, was ich fühle, sondern werde mich in das hineinfühlen, was ich glaube. Solch ein Mensch ist nicht nur reif, er ist auch strak!“
Copyright IML März 2017