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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Der große Sommer

Ewald Arenz
Der große Sommer

DuMont Buchverlag, Köln 2021

317 Seiten, 20.- €

 

In diesen Tagen über die Polarisierung oder gar Spaltung der Gesellschaft zu sprechen und zu schreiben, ist Trend, erzeugt Aufmerksamkeit. Im Pandemie-Jahr II scheint es, ist die Zerrissenheit nie größer gewesen, sind die Bedrohungen nie ernster gewesen (Stichwort „hybride Kriegsführung“, Migranten als „Waffe“), scheint die Ohnmacht und Hilflosigkeit eine ganze Gesellschaft ergriffen zu haben. Jenseits dessen, die Unsinnigkeit einer solchen Sichtweise offenzulegen, verlieren wir schnell den Blick auf das Wesentliche. Im „großen Sommer“ von Ewald Arenz treffen wir über seine Figuren die Ausläufer der Krisen der siebziger Jahre (RAF, Radikalenerlass), die Gründung einer neuen politischen Partei (Bündnis 90 / Die Grünen), die Proteste gegen Atomkraft (Gorleben) und Nachrüstungsbeschluss (Pershing II). Klischierte Ausdrücke „Rotfront verrecke“, „Faschisten“ erinnern uns an Hinterlassenschaften der neueren Geschichte. Die bundesdeutsche Gesellschaft war nie „homogen“, nie im Konsens befriedet, oft im Streit mit sich und der Weltpolitik. Dieser Folie begegnen wir auch bei Arenz‘ Sommer.

Frieder Büchner, Protagonist (und gefühlt linker Antifaschist), ältester Sohn in einer chaotischen Familie mit sechs Kindern, vertauschten Rollen zwischen Vater und Mutter, steht vor einem Desaster: Nachprüfungen in Latein und Mathe verwehren ihm den Sommerurlaub mit der Familie. Stattdessen darf er für sechs Wochen Quartier bei seiner geliebten Nana (der Großmutter, die aber mit siebenundfünfzig lange nicht der Zuschreibung entspricht, ganz zu schweigen von ihrer künstlerischen Arbeit) und ihrem ungeliebten, weil gefürchteten Gatten Prof. Walter Schäfer, nehmen. Frieder ist bedient. Doch es hilft nichts, der Weg für ihn ist vorgezeichnet. So nutzt er zusammen mit Johann, seinem besten Freund und Alma, seiner resoluten und umtriebigen Schwester, die letzten Schultage vor der Zeugnisausgabe, um nochmals etwas „abzufeiern“, über die Stränge zu schlagen und sich köstlich zu amüsieren.

Die Figurenzeichnungen insbesondere der Lehrkräfte (Zippo, der Latein- oder Hr. Schwarz, der Mathelehrer) schelmisch: Zippo (Herr Zigankenberg) „zwei Meter groß, bestimmt hundert Kilo schwer. Der hätte Boxer werden sollen oder Ringer. Jedenfalls nicht Lateinlehrer. (…) Zwei Meter und hundert Kilo Latein.“ Oder Frau Doktor Ott, die Französischlehrerin: „Das Doktor musste immer mitgesprochen werden. (…) Ich glaube nicht, dass Frau Dr. Ott jemals einen Verweis gegeben hat. Es war einfach so, dass so etwas bei ihr nicht vorkam. Genauso wenig wie vergessene Hausaufgaben. Die hatte eine Art, einen anzusehen und dann unglaublich korrekt zu fragen, wie das habe geschehen können.“ Das erinnert auch manchen Leser zurück, etwa an ironische Nebenbemerkungen eines Dr. Nobis (im Falle des Rezensenten) bei der Rückgabe der Philosophieklausur, dass aus mir vielleicht doch kein genuiner Philosoph werde, aber für daheim reiche es durchaus! Die Ironie war Kritik und Ansporn zugleich, sich ins Zeug zu legen. Es hat sich gelohnt. Für Frieder sieht es nicht danach aus.

Frieder Büchner geht auf das Humanistisch-neusprachliche Lessing Gymnasium. Gotthold Ephraim Lessing: da ist Karl Georg Büchner nicht weit. Dessen Figuren sind oft bestimmt von Langeweile, Melancholie oder Resignation, haben Visionen, rebellieren gegen die bestehenden Verhältnisse und überziehen deren Protagonisten mit beißendem Spott. So überzeichnet Büchner die Missverhältnisse seiner Zeit – immerhin jene der Aufklärung. Bereits mit dreiundzwanzig Jahren gestorben, wird er in einer Linie mit dem jungen Goethe, Christian Dietrich Grabbe, Bert Brecht oder Heiner Müller gesehen. Den Rang eines Shakespeare schreibt ihm die Kritik ohnehin zu. Nicht zuletzt: der gleichnamige Büchnerpreis ist der begehrteste Literaturpreis Deutschlands. In solche Höhen versteigt sich Frieder nicht; gleichwohl finden sich bei ihm Anklänge zu den genannten Themen: Anflüge von Verdruss, Lebensschmerz und Sinnlosigkeit, gepaart mit erbitterter Selbstkritik wechseln mit überbordenden euphorischen Momenten in Flaschengrün. Diese seelischen Wechselfälle des Erwachsenwerdens mitzuverfolgen liest sich mal schmerzhaft, mal kritisch, mal humorvoll bis komisch und über kurze Strecken spannend (etwa in der Bagger-Episode). Der Adoleszenzprozess Frieders und seiner Mitspieler regt den Leser dazu an, die eigene Biografie zu durchforsten, Selbstschau zu betreiben, auch das ein spannendes Thema.

In Arenz Kosmos erleben wir ein Sportfest vor den Ferien, bei dem ein im dunklen Anzug gekleideter Mathelehrer in unnachahmlicher Weise (leicht grotesk überzeichnet) die Schüler in Listen führt und vernunftbegabte Motivationen ausspricht. Oder einen Sportlehrer, den sowieso keiner ernst nimmt und der deshalb umso verzweifelter versucht, Aufmerksamkeit und Achtung zu erringen. „Latein- und Griechischlehrer waren bei uns die Herrscher, dann kam erst mal lange nichts. Moderne Fremdsprachen, Mathe, Chemie, Bio… das war der Mittelbau. Die brauchte man ja und manche hatten sogar was zu sagen. Schließlich kamen Kunst und Ethik und Sozialkunde und Wirtschaft und Sport … die brauchte keiner.“ Die moralischen Verstrickungen in seiner Umgebung erkennt Frieder über wiederholt eingeflochtene Reflexionen. Für Johann und Frieder endet das Sportfest in einer provozierten Disziplinarmaßnahme, begleitet vom versteckten Humor des so kantischen Mathelehrers.

Die Tage verfliegen, sein bester Freund Johann, der mit seinem Vater ständig überkreuz liegt, bei denen es häufig zu lautstarken verbalen Scharmützeln kommt, weil Johann so „konterrevolutionär“ gegen den Banker revoltiert, fährt mit den Eltern in Urlaub, die eigene Familie auch und Kolja, Frieders kleiner Bruder, macht ihm das Herz schwer. Die Zeit der „Strafkolonie“ bei den Großeltern bricht an. Und Beate, seine heimliche (flaschengrüne) Liebe? Ob sie auf ihn warten wird? Ob sie seine Gefühle erwidern wird? Und dann noch das Lernen unter Aufsicht des Medizinalprofessors! Sauerbruch lässt grüßen. Ihm wird schlecht. Der erste Ferientag, noch mitten im Sommer, gleicht ihm dem Beginn des Herbstes, als er auf dem Weg zu den Großeltern den Friedhof, der auch eine Folie für den Roman ist, passiert: „Die Straße war voll, der Weg war leer. Und weil zwischen Straße und Gehsteig die Bäume in langer Reihe standen, war es, als ob man sich in zwei Welten bewegte. Auf meiner Seite roch es unter der Kuppel der Linden, die über den Zaun des Friedhofs wuchsen, durchsichtig süß. Und von den Kastanien am Straßenrand mischte sich ein Hauch von Herbst hinein. Dass in allem Anfang immer schon ein Ende lag! Aber dieser dunkelgrün-bittere Geruch der Kastanienblätter machte die helle Süße der Lindenblüten noch intensiver. Vielleicht musste es so sein, dass man immer schon wusste, dass das Schöne verging. Vielleicht war alles so.“

Frieder bezieht im wie aus der Zeit gefallenen Haus des Großvaters, ein kleines Zimmer. Seine Freude ist mäßig, scheint sich doch zu bestätigen, dass der Alte ein Drachen ist: Von acht bis zwölf wird gelernt, dann zu Mittag gegessen, denn der Professor kommt immer pünktlich aus der Klinik, danach ist Freizeit für den Jungen. Regelmäßig „prüft“ der Alte Frieders Kenntnisse, setzt ihn mit lateinischen Phrasen unter Druck. Es kommt jedoch kein Widerwille bei Frieder auf, eher scheint sich eher Lernwille zu entwickeln. Nana, seine Großmutter, unterstützt, neckt und verwöhnt ihn. Frieder bezieht das Gästezimmer, ausstaffiert mit vielen Bücher, Bildern, großbildungsbürgerlicher Geschmack. Nana bewohnt eine eigene Wohnung im Obergeschoß. Dort finden sich ihre künstlerischen Arbeiten und ihre Tagebücher, die Frieder alsbald entdeckt und sich ohne große Sorgen darin vertieft. Nicht fern zu denken, dies führt zu einem ernsten Zerwürfnis mit Nana. Denn: „In unserer Familie, Frieder, ist die Liebe immer beides zugleich. Das größte Glück und die größte Katastrophe.“ Arenz gelingt das Kunststück den daraus erwachsenden moralischen Konflikt im Widerstreit mit dem Interesse Frieders, die Umstände seiner Familie besser kennenlernen zu wollen, in jener schwebenden Balance zu halten, die unsere Sympathien dem Protagonisten nicht entzieht und doch mitfühlend Nana begleitet. Denn in diesem Prozess spiegelt das Besondere (der Situation Frieders) jenes Allgemeine, das wir alle aus unserem Werden in der Familie kennen: unterschiedliche Blickwinkel erzählen unterschiedliche Narrative. Das bereichert unser Leben und bindet gerade die ältere Generation ins Leben der jungen ein. Dieser dramaturgische Kunstgriff vertieft unsere Bindung an das Personal. Zudem entfaltet die Kontrapunktik von primärer zu sekundärer Herkunftsfamilie einen Spannungsbogen, über den sich Primär- und Sekundärsozialisation zu einem einheitlichen Strang in der Entwicklung für Frieder verknüpfen.

Das wird besonders im Fall des Professors ersichtlich: Sein mürrisch-prüfendes Verhalten dreht sich und Frieder profitiert von seinen Vorschlägen oder Ansagen. Bald arbeitet er bei ihm im Institut, verdient sich etwas dazu und lernt zugleich etwas über den Alltag im Labor. Natürlich kommt der Professor da auch als Respektsperson daher. Und ganz nebenbei erklärt er Frieder die Integralrechnung anhand der Bestimmung eines Blatts. Pro captu lectoris habent sua fata libelli – wenn schon Bücher ihr Schicksal haben (frei nach Terentianus Maurus) oder Bücher das Schicksal ihrer Leser teilen (Eco), dann hat Walter Schäfer einiges zu erzählen über die Kunst des (Über)lebens unter politisch widrigen Umständen, in denen die Plebs und der Mob regieren. Phänomene, die dieser Tage über die pandemische Krise wieder hochgespült werden.

Die Ferien werden lernintensiver als erwartet, das Leiden an der flaschengrünen Liebe zu Beate wird auf eine harte Probe gestellt, als Johanns Vater unerwartet stirbt. Die Verwirrungen und ihre Formen sie zu bekämpfen, bringen die Figuren an den Rand ihrer Handlungs- und Bewältigungsmöglichkeiten. Die vermeintliche Resilienz Johanns, seine psychosoziale Autonomie und seine Bindungserlebnisse werden auf eine Weise infrage gestellt, die auch die anderen Figuren existenziell berührt. Das Scheitern der Gruppe scheint unausweichlich, zu tief gehen die Verletzungen. Vergessen die Schulerlebnisse, die Touren ins nächtliche Bad oder die Baggerepisode.

Eingeflochten in die Entwicklung ist der Spaziergang Frieders aus der aktuellen Zeit. Er sucht auf dem Friedhof ein Grab und erinnert zugleich die zurückliegenden Jahre.

Sommerliche Idylle, das Schwingen melancholischer Stimmung und das Stürmen der Jugend: Arenz ist ein einfühlsamer und humorvoller, atmosphärisch dichter Sommerroman gelungen, der insbesondere auf der Gefühlsebene das Rauschhafte mit dem Verqueren und dem Katastrophalen in einer Leichtigkeit verknüpft, der wir zu gerne folgen und uns an das eigene Erwachsenwerden erinnern.

Ein kurzer Versuch literarischer Einordnung

In diesem Frühjahr erschienen: Benedict Wells – Hard Land. Ein Roman über eine Jugend im Missouri des Jahres 1985. „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“ Ein Katastrophensommer voller Glück, so erlebt Sam diese Zeit, zu der Kristie, seine große Liebe, bemerkt: „Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird.” Auch hier finden drei Freunde zusammen, die aus der Enge ihrer ländlichen Idylle flüchten wollen, abfeiern und über die 49 Geheimnisse ihres Ortes am Lake Virgin sinnieren. – Bereits der erste Satz spiegelt literarische Weite, gekoppelt an eine gewisse Beliebigkeit. Die Weite erfasst die Gegensätze, auf die man gespannt ist und dieser eine Satz umfasst die ganze Komposition. Hier werden Sehnsucht und Erinnerung an eigenes Erleben zu einem (interaktiven) Lesen in einem einzigen Teppich verwoben. Auch wenn dieser erste Satz in freier Form „übernommen“ ist (das Original stammt aus Charles Simmons‘ „Salzwasser“ [1999] – „Im Sommer 1963 verliebte ich mich, und mein Vater ertrank.“), so Wells im Nachwort, ist sein Arrangement doch eigenständig, weil er dem Leser jenen Assoziationsfaden reicht, der Sam durch die 80er streifen lässt, die auch wir gut kennen, uns darin abgebildet wissen.

Schon älter und ein Klassiker: Jerome David Salinger – Der Fänger im Roggen. Erschienen 1951 und von William Faulkner als „das beste der gegenwärtigen Generation“ gelobt, gilt auch heute noch als Meilenstein der Adoleszenzliteratur. Die Hauptfigur, der sechzehnjährige Holden Caulfield, leidet an der damaligen Gesellschaft, die er als bigott, mit leergelaufener Tradition und hohlem Konformismus bestückt, zunehmend entmenschlicht empfindet. In dem Bewusstsein, auf der Schwelle zu dieser Erwachsenenwelt zu stehen, rebelliert Holden in seiner Verweigerungshaltung mit einer teils amüsanten, teils schockierenden Sprache. Den Höhepunkt seiner Krise erreicht er im vorweihnachtlichen New York, in dem er herumirrt auf der Suche nach einem menschlichen Ansprechpartner, doch er erlebt nur Worthülsen in hektischer Konsumlaune. In seiner panischen Suche nach der Stimme des anderen in Telefonzellen, Hotelzimmern, Taxis und Bars verzweifelt er immer mehr an der Welt des „So-tun-als-ob“, in der er vor unsichtbare Wände läuft. Im heimlichen Gespräch mit seiner kleinen Schwester erzählt Holden selbstinterpretierend: „Jedenfalls stelle ich mir immer kleine Kinder vor, die in einem Roggenfeld ein Spiel machen. Tausende von kleinen Kindern, und keiner wäre in der Nähe – kein Erwachsener meine ich – außer mir. Und ich würde am Rand einer verrückten Klippe stehen. Ich müsste alle festhalten, die über die Klippe hinauslaufen wollen – ich meine, wenn sie nicht achtgeben, wohin sie rennen, müsste ich vorspringen und sie fangen … Ich wäre einfach der Fänger im Roggen. Ich weiß schon, dass das verrückt ist, aber das ist das einzige, was ich wirklich gern wäre.“ Als bedeutender Entwicklungsroman steht der „Fänger“ in einer Tradition mit Mark Twains Huckleberry Finn. Ein unbeugsamer Charakter, der lieber zum Teufel geht, als in dieser Weise zivilisiert zu werden, so die Kritik damals. Beide, „Huck“ und „Holden“, sind keine Provokateure, keine Revoluzzer, sie predigen nicht den Umsturz, wohl aber schildern sie die Seismologie einer fragwürdig gewordenen Welt, der sie – mindestens ein Stück weit – ihr eigenes Weltbild entgegenstellen.

Frieder zeichnet sich nur bedingt als Widergänger Holdens oder Sams aus. Arenz lotet die Tiefe seiner Figuren dazu nicht aus. Frieders Vater bleibt blass, die Ansätze für eine Vertiefung wären vorhanden, ebenso bei der Mutter Regine. In seinem Fokus auf Frieder schafft Arenz es allerdings an die Themen des Erwachsenwerdens anzuknüpfen, sie aus seiner Sicht knapp, aber ausreichend zu erfassen, ohne dabei die grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen wie sie bei Salinger anklingen zu ergründen. Möglich, genau dieser Verzicht macht das Buch so leicht lesbar, denn es hindert uns nicht daran, uns selbst die notwendigen Fragen nach Entwicklung, Veränderung und Zukunft von Gesellschaft zu stellen.

Link zur Besprechung im Literarischen Duett: https://d.vhs.cloud/d.php/1/6/0.4294967296149.naKRJYk2TzjxKuB7adUct9gk.LzQ

Ingo-Maria Langen, November / Dezember 2021