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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Der Gebrauch der Körper

Giorgio Agamben
Der Gebrauch der Körper
Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko und
Michael von Killisch-Horn


FischerWissenschaft, Frankfurt/M., 2020
478 Seiten, 25.- €

 

Giorgio Agmaben, Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti, Universität Venedig sowie an der European Graduate School, Saas-Fee und am Collège International de Philosophie in Paris. Bei Fischer erschienen sind: „Stasis. Der Bürgerkrieg als Paradigma“ (2016), „Die Erzählung und das Feuer“ (2017), „Was ist Philosophie?“ (2018).

Andreas Hiepko, Studium der Germanisktik und Hispanistik, arbeitet als Philologe und Übersetzer in Berlin.

Michael von Killisch-Horn, Studium der Romanistik, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache. Er arbeitet als Übersetzer aus dem Französichschen und Italienischen in München.

Feature

Begleitet uns das Privatleben gleichsam als blinder Passagier? Haben wir es (in der westlichen Welt) mit einer das Leben umfassenden Entfremdung zu tun? – Agamben beschäftigt sich seit seinem Hauptwerk „Homo sacer“ (1995 S. Fischer) mit den Bruchlinien menschlichen Daseins. Dazu greift er auf die antike Philosophie von Platon und Aristoteles zurück, um die Strukturbrüche der Moderne in Politik und Öffentlichkeit auf grundlegende Ausgangspunkte zurückführen zu können.

In der Politik stellt Aristoteles ein dreiseitiges Beziehungsgeschehen der Haushaltsführung vor: die despotikè zwischen Herren und Sklaven, die gamikè zwischen Mann und Frau sowie die technopoitikè zwischen Vater und Kindern. Bereits an dieser Stelle macht Agamben die grundlegende Spaltung des abendländischen Denkens aus, die sich selbst über die Kirchenväter und Scholastiker (Augustinus / Thomas) bis in die Moderne zu Kant oder Heidegger verfolgen lässt. Diese Bruchlinie liegt in der Betrachtung der menschlichen Seele: ihrer Funktionalität und ihres Beziehungsgeschehens im sozialen Kontext. Aristoteles billigt dem Sklaven zwar Menschenstatus zu, gemäß der antiken Sicht auf die erst beginnende Anthropologie aber über einen verminderten Beziehungsstatus die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Das führt dazu, dem Sklaven die Fähigkeit zur Kreation eigener Werke abzusprechen, sei der Gebrauch des Körpers (auf Geheiß des Hausherrn) doch das einzige Werk, das herzustellen er fähig sei. Aristoteles legt damit in der Nikomachischen Ethik genau jene Unterscheidung fest, die zur Begründung der Unterschiedlichkeit von Menschen führt. Der Sklave als kategorialer Fund. Denn das Eigentümliche menschlicher Verrichtung drückt sich nach seiner Ansicht in vernunftbegabter Tätigkeit aus, Wissen mit Können und Selbstreflexion verbunden bringt erst die schöpferische Tätigkeit hervor. In der Topik stellt er in der Diskussion zum „Proprium“ klar, dass es diverse Wissensbegriffe gibt, die Besitz und Gebrauch von Wissen differenzieren. Die von ihm sogenannte energeia beschreibt ein Tätig-Sein, das jenseits der technischen Komponente eine ethische verlangt und sich mit dem vollendeten Gebrauch der Tugend verbindet. Welcher Sklave sollte diesem Anspruch genügen?

Agamben verweist auf Michel Foucault und dessen linguistische Forschungen zu Platon (Alkibiades): chrestai – etwas Erlernen, benutzen, in Gebrauch nehmen. In Erweiterung des energeia-Begriffs soll es hier um den Gebrauch der Selbstsorge gehen: die epimeleia tês psychês. Nicht die Seele als Substanz steht im Fokus, sondern – so Foucault – die Seele als Subjekt. Das ist eine eminent feinsinnige wie auch kategoriale Unterscheidung. Wird durch sie doch erst die Möglichkeit geschaffen, zu sich selbst in Beziehung zu treten. Agamben zitiert Foucault: „Das Selbst, zu dem man in Beziehung steht, ist nichts anderes als die Beziehung selbst (…), das ist, kurz gesagt, die Immanenz oder besser: die ontologische Gleichsetzung des Selbst mit der Beziehung.“ So darf sich die Sorge um sich selbst nicht in sich selbst erschöpfen, sondern sie muss nach ihrer bildnerischen Herausforderung fragen, dem Humanismus, der sie erst befähigt, im Sinne der Selbstführung Herrschaft über den Staat und damit über die Mitmenschen zu übernehmen. Darum ist der Bezug zu Alkibiades im Symposium so wichtig: er, der hedonistisch ausschweifende Machtpolitiker, reißt alles an sich, duldet nur seine Anhänger und wendet sich gegen die Schwachen. Nicht die Rede der Diotima ist hier der Kern, sondern der zu spät kommende Alkibiades, dem sittliche Größe nichts gilt. Die dunklen Mächte der archè personifizieren sich in ihm. Das fehlende Ethos (in der Rhetorik: die schlechtere Rede zur besseren machen) disqualifiziert diesen Typus, denn sie unterminiert das Ziel sozialer Gemeinschaft: „Die Erziehung durch die Philosophie hat sich als die allein wahre erwiesen. Kein anderer Weg als sie führt zu dem Ziel, den Staat in der Seele selbst zu begründen.“ (W. Jaeger – Paideia und Eschatologie)

Die Sorge als Sein des „In-der-Welt-Sein(s)“

Mit dem „Hammer-Beispiel“ erschließt Agamben die grundlegendere Position Heideggers über den Umgang mit der Welt, dem Zuhandensein und der Bewandtnis als Struktur des Daseins. Das Paradigma des Zuhandenseins beinhaltet das „Zeug“ als Bestimmungscausa etwa im Sinne des aristotelischen Organon, so dass Heidegger schreibt: „Das Hämmern selbst entdeckt die spezifische ‚Handlichkeit‘ des Hammers. Die Seinsart von Zeug, in der es sich von ihm selbst her offenbart, nennen wir Zuhandenheit. Nur weil Zeug dieses ‚An-sich-sein‘ hat und nicht lediglich nur vorkommt, ist es handlich im weitesten Sinne und verfügbar.“ (Sein und Zeit, § 15)

Mit Rückbezug auf die aristotelische causa formalis, causa materialis, causa efficiens und causa finalis erinnert Agamben daran, dass die mittelalterlichen Scholastiker die Zusatzkategorie der causa instrumentalis definierten, um die Wirkungsweise der Sakramente an Körper und Seele des Gläubigen verständlich werden zu lassen, die letztlich der causa principalis und damit Christus selbst unterliegen. (Thomas, Summa) Ihre Klammer bilden Trinität und Erlösung. Dazwischen bewegt sich der „Ausspender“ (Zelebrant), der causa instrumentalis für die ganze Kirche handelt und insoweit durchaus genealogisch mit dem Sklavenbegriff Aristoteles verwandt ist. Die „Ordinatio sacerdotalis“ geht soweit, dass selbst schlechte Einflüsse des Priesters keine Auswirkungen auf die Spende des Sakraments haben, weil das Hauptagens Christus selbst ist, der Priester dessen Werkzeug. Die Botschaft Gottes und seine unverfügbare Gnade werden in den Sakramenten theologische Paradeigmata, eine technologia sacra (Agamben).

Arcanum imperii

Im Anschluss an „Homo sacer“ zeigt Agamben auf, dass die politische Überformung des „nackten Lebens“ eine ex-ceptio abendländischer Politik ist. Das politische Leben stellt die Stadt, das ursprüngliche die Welt draußen. Dort ist das Leben unpolitisch. Die kulturpolitisch gesetzte Relation zwischen bios und zoè wird zum Beziehungsspiel, das Agamben mit 1 Kor 7 erläutert: dort weist Paulus auf die hos me-Formel hin („als ob nicht“). Agamben: „In der Form des ‚als ob nicht‘ zu leben bedeutet, alles rechtliche und soziale Eigentum zu destituieren, ohne dass diese Absetzung eine neue Identität begründet.“ Wird hier die Entfremdung des Lebens für uns aufgehoben, und damit zugleich das Privatleben als begleitender blinder Passagier? Ein Anknüpfungspunkt ist es allemal. Er bietet die Möglichkeit dem verwalteten Leben zu entsagen, dem „Niedergang des Politischen und der Öffentlichkeit“ zu entkommen. Herrschaft, so lässt sich Agamben verstehen, wäre dann mit einer Ästhetisierung der Politik zu verbinden, radikal-situativ vom bios-theoretikos zu einem sittlichen und glücklichen Leben für die Gemeinschaft zu führen. Rigoros formuliert müsste letztlich eine anarchische Verschränkung von nacktem Leben und strukturellem (verwalteten) Leben erfolgen, in dem Herrschaft aufgehoben ist.

Darin eingeschlossen wären die Vorleistungen vergangener Generationen, Epochen und Kulturen, um Wirklichkeitserfahrung, Wirklichkeitsdeutung und Wirklichkeitsbewältigung als vermittelter Tradition einzubinden und auf ihren Kerngehalt im Sinne der ex-ceptio zurückzuführen. Denn – so Adorno –  „das reine, vollendet sublimierte Subjekt, wäre das absolut Traditionslose. Erkenntnis, welche dem Idol jener Reinheit, dem totaler Zeitlosigkeit, gänzlich willfahrte, koinzidierte mit der formalen Logik, würde Tautologie.“

 

Fazit: Als Abschluss der „Homer scaer“ Reihe bringt Agamben über einen breiten Fächer der abendländischen Philosophie das nährende Leben in den Fokus: Was hindert uns in einen neuen Austausch mit dem „nährenden Leben“ zu treten? Zukunftsvisionen für die abendländische Welt lauten immer noch: Fortschritt durch Technik. Was für ein Fortschritt? In einer Welt, die (mit unserer Hilfe) Pushbacks toleriert, Lager unterhält, Kriege duldet. Die Unterschiedlichkeit von Maß und Mitte, sie wird am Umgang mit dem Leben selbst deutlich. Eine Rückbesinnung auf das uns geschenkte, nackte Leben, sie würde neue Einsichten ermöglichen (Demut), wenngleich Agambens Ansatz einer ἀναρχία für „entwickelte“ Gesellschaften kaum gangbar sein wird. Gleichwohl ist das Rütteln an unseren Grundüberzeugungen so notwendig wie zukunftsgerichtet. Agamben leistet das mit einem großen Wurf!

Ingo-Maria Langen, April 2021