Wolfgang Schorlau Claudio Caiolo
Der freie Hund
Commissario Morello ermittelt in Venedig
Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln 1. Auflage 2020
323 Seiten, 16.- €
Zusammenfassung:
Ein aktueller Krimi aus der Serenissima. Ein süditalienischer Commissario ermittelt im Norden. Zwischen wüsten Vorurteilen, ungewohnten Leuten und harten Wirtschaftsinteressen droht er zerrieben zu werden. Doch er ist nicht nur ein gewitzter Koch mit einer feinen Nase, die eignet sich auch für die Spurensuche im verschlungenen Venedig.
Wolfgang Schorlau, mehrfach ausgezeichneter Preisträger, zuletzt mit dem Stuttgarter Krimipreis 2019, davor mit dem Stuttgarter Ebner-Stolz Wirtschaftskrimipreis, bekannt für die „Dengler“-Krimis lebt und arbeitet als Schriftsteller in Stuttgart.
Claudio Caiolo, in Sizilien geboren, studierte Theater in Venedig, spielt Theater, schreibt Drehbücher und arbeitet als Schauspieler. Er lebt in Stuttgart.
Viele kennen die tragische Geschichte um die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino aus Palermo. Beim Attentat auf Borsellino ging auch seine „rote Agenda“ verloren. Eine Zusammenstellung von Terminen und Informationen, die er zum Netz der Mafia gesammelt hatte. Mit dem Anschlag auf Falcone geriet ebenfalls viel Wissen über „la Cosa Nostra“ in Verlust. Der öffentliche Druck auf die Ermittlungsbehörden führte dazu, dass Größen wie Toto Riina (Capo dei Capi) 1993 gefasst wurden. In einem solchen Strudel steckt auch Commissario Antonio Morello, der gerade ein paar lokale Mafia-Größen hinter Schloss und Riegel gebracht hat. Nun steht er unter schwerer Bewachung in einer Kaserne. Doch die Isolation währt nicht lange, er wird versetzt nach Venedig. Was ist nun schlimmer?
Morello, Sizilianer durch und durch, er kocht gut, liebt die Besonderheiten der Region wie die Caponata. Ein fleischloses, süßsaueres Gemüsegericht, das aufwendig zubereitet ein Gaumengenuss ist und sich mit einem Wein exzellent abrunden lässt. Eine Reminiszenz an die Heimat, hier im unwirtlichen Venedig. Doch bereits der‚Einstand‘ wird ein Desaster. Morello macht einen Taschendieb aus, bei dessen Verfolgung er zwar erfolgreich ist, dafür aber auch in einem der ‚schmutzigen‘ Kanäle landet. Sein Anzug hin, die Laune im Keller, beide landen beim Friseur in der belebten Ruga Giuffa. Dem Leser schmeicheln die ruga di espressione, die Lachfältchen. Die Szene hat etwas unfreiwillig Komisches, das zu Herzen geht und bereits früh eine Bindung an die Figuren entstehen lässt. Trockengelegt, mit dem Dieb am Arm, erscheint Morello zwei Stunden zu spät zum Dienst und wird vom Vice-Questore erstmal kräftig abgebürstet. Hier in Vendeig läuft es anders als da unten in Sizilien, hier ist man pünktlich. Punktum.
Der Resonanzraum für Konflikte der Figuren ist eröffnet. Die Vorstellung des neuen Commissario bei den Kollegen läuft nicht besser, besonders Ferruccio Zoltan ist unnahbar. Er sollte eigentlich den Posten bekommen haben, nur der Deal der oberen Etage hat das verhindert. Was für eine Schmach für einen stolzen Venezianer. Und dann noch die Einbuße beim Gehalt, bei den Preisen für eine Mietwohnung. Die Autoren zeichnen die Charaktere fein und zeigen bei ihrer Einführung ein differenziertes Figurentableau. Da ist Anna Klotze, die junge Triestinerin mit ihrem eigenartigen Dialekt. 1,90 Gardemaß, durchtrainiert, scheut sie keine Auseinandersetzung. Oder Mario Rogallo, ein sportlicher junger Mann, der allerdings mit seinen postpubertären Allüren so ziemlich alle Kollegen gegen sich aufbringt. Der Spezialagent Alvaro Camozzo, eine unauffällige Erscheinung und der gute Geist der Abteilung, die Segretaria Viola Cilieni. Der leicht aufgeblasene Questore Perloni und sein Stellvertreter Felice Lombardi, ein Mann von Statur, aber auch gewissen Vorurteilen. Die bekommt Morello direkt zu spüren: „Ein Sizilianer“, sagt eine empörte, tiefe männliche Stimme. „Das muss man sich mal reinziehen. Ein Sizilianer! Natürlich ist er unpünktlich.“ „Einer aus dem tiefen Süden in Venedig!“, antwortet ein anderer Mann. „Man weiß doch, dass die faul wie Bohnenstroh sind.“ (…) „Warum wird uns ein fauler Sizilianer hier nach Venedig geschickt? Entweder hat er jemanden in der Familie, mitBeziehungen, verstehst du, oder er ist verdammter Mafi…“ Besser könnte es kaum laufen.
In diese Lage platzt die Nachricht vom gewaltsamen Tod eines jungen Mannes aus der ersten Gesellschaft Venedigs. Der Vater Kunsthändler, die Mutter Miteigentümerin einer Holding im Umfeld des Hafens, wo viel Geld umgeschlagen wird. Sind hier politische Kräfte am Werk oder andere? Morello denkt an seine Obsession: la Mafia. Doch nicht hier oben in Venedig! Hohn und Spott schlägt ihm von allen Seiten entgegen. Schlimmer noch, sein Vize Zolan, intrigiert gegen ihn.
Das Opfer ist von mehreren Messerstichen niedergestreckt worden. Deutet das auf eine Beziehungstat hin? Die Ermittler identifizieren schnell mögliche Täter. Doch etwas spricht dagegen und Morello hält weiter an seiner Mafiatheorie fest. Die Nachforschungen gestalten sich schwierig. Die nächsten Verwicklungen stehen an. Der Commissario prüft mögliche Verbindungen zur Hafengesellschaft. Sein Team gerät unter Druck, er selbst in die Schusslinie der Politik und von Questore Perloni. Schnell heißt es für Morello: ab wieder in den Süden. Zoltan jubiliert, er sieht sich endlich auf dem Stuhl des Commissario. Doch nochmals dreht sich der Wind, der Commissario wird wieder zurückbeordert und mit der weiteren Aufklärung betraut.
Eine spezielle Verhörmethode ermöglicht es Morello im Trüben zu fischen, Köder auszulegen, Stück für Stück eine Spur frei zu präparieren. Die Komplexität steigt mit jedem neuen Mosaikstein – und die Gefahr für sein ganzes Team. Mittlerweile sind sie in der hohen Politik angekommen und sie ahnen: Es geht um viel Geld und für sie ums Ganze.
Fazit: Ein Venedig-Krimi mit kleinem Kolorit, großen Kreuzfahrtschiffen, dunklen Gassen und verstecken Tätern, die sich ein gelungenes Katz-und-Maus-Spiel liefern, in einer ebenso prachtvollen wie bedrohlichen Umgebung.
Ingo-Maria Langen, März 2020