Klaus Mertes
Den Kreislauf durchbrechen
Damit die Aufarbeitung des Missbrauchs am Ende nicht wieder am Anfang steht
Patmos Verlag, Ostfildern 2021
80 Seiten, 12.- €
Klaus Mertes, Jesuit, Oberer des Ignatiushauses Berlin, Redakteur der „Stimmen der Zeit“. Als ehemaliger Rektor des Canisiuskollegs in Berlin ging er 2010 im Zusammenhang mit einem Missbrauchs- und Vertuschungsskandal an die Öffentlichkeit. Der seit dieser Zeit einsetzende Bewusstseinswandel innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland wie auch der Gesamtgesellschaft führt auch weiterhin zur kritischen Auseinandersetzung mit Missbrauch in seinen unterschiedlichen Formen. Kürzlich wurde er für sein Eintreten um die Aufarbeitung der Missbrauchskrise gemeinsam mit dem ehemals betroffenen Schüler Matthias Katsch mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Spotlight
In dem gut lesbaren Essay befasst sich Mertes mit dem zähen Aufarbeitungsprozess in der katholischen Kirche und lotet Möglichkeiten aus, diese zu überwinden. Im Fokus der Überlegungen steht das Scheitern der bisherigen Prozesse. In weiten Teilen der Gesellschaft sind wir darauf angewiesen eine innovative Organisations- und damit auch Fehlerkultur zu pflegen. Umgang, Bewertung und Lernprozesse im Zusammenhang mit Fehlern ermöglichen uns Aufgaben und Ziele auch ex negativo zu verstehen, um kreativen (Methode), kontinuierlichen Lernfortschritt (Umsetzung) zu erzielen. Die Organisationsform des betrachteten sozialen Systems spielt nur eine untergeordnete Rolle. Für die katholische Kirche gilt: der Lern- und Fehlerkulturbezug ist nachhaltig gestört. Das zeigt sich einerseits im verzweifelten Versuch institutionelle Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, ohne andererseits den Versuch struktureller Reformen anzugehen. Zu Recht sieht Mertes darin ein großes Scheitern. Die Missbrauchsthematik lässt viele Kirchenmitglieder strukturelle Fragen stellen: „Ich glaube dem Gottesbild der römisch-katholischen Kirche insofern nicht mehr, als ich nicht an einen Gott glaube, der regelverliebt ist, der zählt, wie oft wer mit wem schläft oder mit welchem Geschlecht oder sonst was“, sagt Lisa Kötter, Mitbegründerin Maria 2.0, beim swr1 in diesem Monat. Fundamentalkritik erschwert die Positionierung in einzelnen Feldern. Für Mertes ist es folgerichtig die Rollen zu klären: Steht die Institution der Kirche im Fokus, geht es um ihren strukturellen Machterhalt? Lädt sie unter ihrem Regime zu Prozessen ein (Betroffenenbeiräte), gibt sie die Form (den Ablauf) vor und präjudiziert fast das Ergebnis. Die Betroffenen (und ihre Familien) werden dann als Haftungsgaranten für Ergebnisse benannt, deren Zustandekommen mindestens Zweifel aufkommen lassen. Mertes erinnert an Mt 25, 31: die Begegnung Christus mit den Armen. Mertes diagnostiziert eine falsche Solidarisierung der Kirche mit den Opfern. „Der Missbrauch hat die Verständigung zwischen den Verantwortlichen und den Betroffenen auf der Basis dieser Sprache vorerst unmöglich gemacht. (…) Es ist nämlich ein Unterschied, ob man sich Gewaltopfern zuwendet, die Gewalt von anderen Personen erfahren haben, oder ob man selbst ihnen Gewalt angetan hat.“
Der Fall Wölki aus Köln ist für Mertes paradigmatisch: gescheiterte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mit übereilten Aktionen und Ankündigungen. Auslöser waren die MHG-Studienergebnisse. In der Folge gerät er ins Straucheln, behält das Gutachten (WSW) für seine Diözese unter Verschluss, benennt neue Gutachter. Das neue Gutachten löst die Schwierigkeiten nicht auf, der Eindruck in der Gemeinde über Wölki könnte schlechter nicht sein. Kirchenaustritte nehmen zu. Auch hier ging es salopp gesprochen um Schadensbegrenzung, Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit. Eben jenen ‚Kardinalfehler‘, den Mertes kritisiert.
Jenseits der Rollenzuweisung, Kommunikationsstrategie und der (ehrlichen / empathischen) Anerkennung der Betroffenen sei ein Täter-Opfer-Ausgleich, der nicht im vorgegebenen Rahmen eines kirchlichen Aufarbeitungsprozesses angesiedelt ist, sondern über eine unabhängige Kommission, die nicht Teil des Missbrauchskomplexes selbst ist, notwendig. Eigentlich wäre das selbstverständlich. Im Falle des deutschen Staatskirchenrechts ist das allerdings juristisch nicht erstreitbar. Wohl ließe sich denken, dass mit einer Zustimmung der Deutschen Bischofskonferenz über den Bundestag eine solche „Wahrheitskommission“ eingesetzt würde, deren Ergebnisse nicht nur rechtlich, sondern insbesondere menschlich überzeugen und einen Neuanfang ermöglichen könnten (auch: ein Klagerecht der Betroffenen). Dafür müsste die Kirche über ihren Schatten springen. Nur ein solcher Prozess böte die Grundlage dafür, was die Kirche so sehnlichst wünscht: ihre Reputation wiederzuerlangen. In jenem Prozess käme allerdings zur Sprache, was die Kirche bislang vermeiden konnte: Macht und Machtmissbrauch (auch spirituell), Umgang mit Homosexualität (Homophobie), schließlich die Theokratie alter (weißer) Männer.
Gelingt dies auf mittlere Sicht nicht, tritt ein Bedeutungsverlust der Kirche in unserer freiheitlich-humanen Gesellschaft ein, der zu vielfältigen Erosionen (Caritas) führen wird. Ein Bindungs- Moderations- und Fürsorgeanspruch (Werteorientierung) fiele ersatzlos fort.
Fazit: Der Essay von Mertes legt den Finger in die Wunde: Gerechtigkeit verlangt nach Ausgleich im Hier und Heute. Das Christentum ist nicht unpolitisch. Schadensersatz, Schmerzensgeld, Wiedergutmachung sind Regelungen für den Rechtsfrieden in der Gemeinschaft. Ein falsches „sich an die Seite der Opfer stellen“ hilft da nicht. Den individuellen Schaden in der Seele kann niemand mehr reparieren – gerade Seelsorger sollten sich den Umständen mit Demut nähern. Ein starker und provokanter Einspruch, dem Widerhall in der Kirchenleitung zu wünschen ist.
Ingo-Maria Langen, Mai 2021