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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Demokratie braucht Religion

Hartmut Rosa
Demokratie braucht Religion

Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis
Vortrag Würzburger Diözesanempfang 2022

Mit einem Vorwort von Gregor Gysi

Kösel Verlag, 7. A., München 2023
80 Seiten, 12.- €

 

Resonanzen und Transformationen

In einem zunehmend komplexen Weltgeschehen scheint wenig Raum für Ruhe, Reflexion, Stillstand. Die Achtsamkeitsindustrie boomt, Kurse zur Stressbewältigung und Selbstwirksamkeit sind ausgebucht. Indikatoren, die anzeigen, die Gesellschaft ist einer permanenten Überforderung ausgesetzt. Im Hamsterrad vermeintlicher Entwicklungen müssen alle wachsen – oder weichen. Welche Vorstellungen liegen diesem Denkmodell zugrunde? Hält die moderne demokratische Gesellschaft Konzepte und Räume bereit, die uns ermöglichen Kontemplation zu üben? Gesellschaftliche Ziele zu überdenken und anzupassen oder auch neu zu denken? Und: kann Religion dabei eine aktive Rolle spielen? Diesen Überlegungen geht Helmut Rosa in seinem kurzen Vortrag nach.

Kontemplation benötigt Ruhe, Stillstand vom Alltag, Einkehr, Innerlichkeit. Ist der Glaube (die Kirche) ein Ort, der mir diesen Zugang eröffnet? Augustinus sagt im Zusammenhang mit dem Durchdringen von Leben und Welt: „Was ich also verstehe, das glaube ich auch, aber nicht alles, was ich glaube, verstehe ich auch.“ Die Erkenntnis über die Begrenzung der Verstehbarkeit oder auch von Verstand und Vernunft. Was über uns hinausweist, unseren Horizont (im durchaus geistlichen Sinn) übersteigt, daran kann ich nur über meinen Glauben wachsen. Über den Apostel Philippus wird in Apg 8, (27-39) berichtet, dass er einen Kämmerer am äthiopischen Hof beim Selbststudium der Heiligen Schrift sieht und diesen fragt: „Verstehst du auch, was du liest? Der antwortet: „Wie könnte ich, wenn mich niemand anleitet?“ Hermeneutik des Verstehens. Der Äthiopier empfängt die Taufe, taucht ein in des Herrn Herrlichkeit, glückselig auf seinem weiteren Weg. Miteinander braucht Füreinander: Christlichen Glauben in der Anerkennung meines Gegenübers, seiner Bedürftigkeit, meiner Zuwendung. Das ist die Klammer für den Menschen, Glaube und Gesellschaft, aus der sich Sinn stiftet.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens hat Viktor Frankel so beantwortet: Es kommt nicht darauf an, was wir uns vorstellen, sondern darauf, welche Fragen das Leben an uns stellt. Es ist unsere Aufgabe, diese zu beantworten. Auch das ist Teil der Kontemplation. Und sie macht uns kleiner, lehrt uns Demut. Wachstum in meiner inneren Haltung, meinem Menschsein in Christus. Demgegenüber begegnet uns bei Rosa zunächst eine bedrückende (kritische) Bestandsaufnahme unserer postindustriellen Gesellschaft. Mit dem Begriff des „rasenden Stillstands“ beschreibt Rosa ein System des Handelns, das in einer Haltung zu Mensch und Welt wurzelt: Die Gesellschaft rast, indem sie sich einem permanenten Höher, Weiter, Schneller verschreibt. Sie zwingt sich zu enormen Reproduktionsleistungen, um zu „wachsen“. „Wachstum“ als Chiffre für Wohlstand und Zufriedenheit der Bürger. Es ist das alte Bild vom Wirtschaftswunder der Fünfziger und Sechziger Jahre, dem Versprechen bei harter Arbeit ein Mehr an Genuss zu erfahren. Angesichts der multiplen Krisen unserer Zeit geht dieses Versprechen verloren. Die Gesellschaft erstarrt in dieser kollektiven Haltung, kann sie jedoch nicht mehr einlösen. Eine Wohlstandskrise individueller (innerer) Haltung ist darüber ausgebrochen. Die Angst vor Statusverlust, die Wut über nicht realisierbare Ansprüche oder Träume, der Frust gegenüber dem Establishment. Daraus speist sich ein Aggressionspotenzial, das mein Gegenüber schnell zum Feind deklariert, der stille schweigen ober besser gleich das Land verlassen soll.

Gib mir ein hörendes Herz

Diese Aggressionshaltung, die Verrohung in Wort und Tat, oft zur besten Sendezeit für Jedermann im Fernsehen, spiegelt die Reizüberflutung und Überforderung einer Gesellschaft, deren Versprechen auf die Zukunft nicht mehr eingehalten werden können. Die Verzweiflung mit der die „Letzte Generation“ kämpft ist paradigmatisch und zugleich aussichtslos. Klimakrise, Gendersprache, Krieg in Europa, Naturkatastrophen vor unserer Haustür, sie wühlen die Menschen auf, weil sie Ohnmacht demgegenüber spüren. Die wirtschaftlichen Kosten kommen noch hinzu: Post-Corona (ist ja noch nicht vorbei), Kranken- und Pflegekassen-Notstand, Unsicherheiten zur Rente, Fachkräftemangel, Angst gegenüber dem Krieg in Europa. Viele Menschen leben deshalb in einem Krisenmodus, einem inneren Kriegszustand. –  Wie sollte Religion da einen Weg bieten, Entlastung zu schaffen? Wird doch gerade auf diesem Feld dieselbe Verrohung bis hin zur Tötung erlebt. Gleichwohl liegt im Ansatz von Rosa mehr als akademische Reflexion.

Resonanz schafft ein Verhältnis zu meinem Gegenüber. Im Wort, im Gefühl, im Raum. Rituale ermöglichen Gemeinsamkeiten über Grenzen (des Verstehen-Wollens) hinaus. Es beginnt mit dem Auf-Hören meines eigenen Wollens, dem Hin-Wenden zum Ausdruck des anderen. Was möchte er mir sagen, wo liegen seine Bedürfnisse, was sind seine Argumente? Ansatzmöglichkeiten, aufeinander zu hören, zuzuhören. Ein Stück gemeinsam zu gehen. Kirche (Religion) bietet dafür nach Rosa ein Reservoir. Paradigmatisch: sich anrufen zu lassen, in einen Resonanzraum einzutreten, der Spiritualität ebenso einbindet wie das gesprochene Wort. Im Gebet wechseln wir von der äußerlichen auf eine innerliche und zugleich eine spirituelle Ebene zu Gott hin. Wir öffnen uns die Kraft des Heiligen Geistes zu empfangen, in uns wirken zu lassen, und gehen mit dieser Resonanz wieder in den Alltag zurück. Demokratie lebt gleichfalls von diesem Angerufen-Werden, das von sich aus Resonanzräume öffnet, uns mit dem Herzen sehen und hören zu lassen. Die Rituale, Praktiken, Musik, der Erlebnischarakter in Gemeinschaft bis hin zur Eucharistie, sie können uns schulen im Umgang miteinander, drinnen wie draußen. Denn bei allem notwendigen Streit über den Weg der Gesellschaft bilden derartige Exerzitien die notwendige Grundlage für Gemeinschaft. Das Böckenförde-Diktum, der Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst (als Institution) nicht schaffen könne, finden gerade hier ihren Ausdruck. Und wir finden die von vielen so gewünschte Kontinuität: Das Kirchenjahr mit seinen Hochfesten und den kleinen Aufmerksamkeiten drumherum. Ein alter Zopf, der Unverfügbares zeigt. Das Gebet gehört als Schlüsselereignis dazu: als Brücke zwischen Innen und Außen, Jetzt und Ewigkeit, Schuld und Rechtfertigung. So wird das rituelle Reservoir gerade der katholischen Kirche lebendig: Kreuzzeichen, Weihwasser, ewiges Licht, der Kreuzweg, die Heiligen. Möglichkeiten der Anrufung aus meinem kleinen Leben, die mir zeigen, ich bin Teil einer Gemeinschaft in Freude wie im Leid, im Schmerz wie im Trost.

Das Empfangen wird zum Gebenden

Die Verkündigung der Kirche hat einen starken Kern für Rosa. Sie hat eine zweitausendjährige Tradition, die Menschen zu binden, zu bilden und zu mobilisieren. Das jesuanische Ideal, die Apostelgeschichte, der Spiegel der Weltentwicklung aus ihrer Sicht. Sie sollte sich besinnen auf ihre Stärken und ihre Aussagekraft. Das ist nicht nur Balsam für die Menschen, es sind auch notwendige Resonanzen für die Gesellschaft, um die weltliche Welt zu gestalten. Das Wesen des Menschen ist Resonanzbeziehung. Rosa: „Das ist nicht nur ein theoretischer Gedanke, sondern eine gelebte Praxis, schauen wir beispielsweise auf das Abendmahl. Da werden sogar drei Resonanzen gleichzeitig aktiviert, die zwischen Menschen, von Menschen zu Dingen und zum umgreifenden Anderen – da entsteht communio, eine Beziehung zwischen den Menschen und zum umfassenden Ganzen.“ Verliert eine Gesellschaft diese Resonanzfähigkeiten, stirbt ihr lebendiger Kern. Demokratie und Aufklärung als Projekte der Moderne (nicht zu verwechseln mit der attischen Demokratie), können einen Raum stiften, der einen säkular verfassten Rechtsstaat hervorbringt, dessen regelbasierte Ordnung konstitutiv und überprüfbar die Freiheit des Einzeln wie das Wohl und Wehe der Gesellschaft sichert. Was er nicht kann, ist die Herzen der Menschen zu beseelen mit Herzblut und Engagement diesem Staat Leben einzuhauchen. Dazu braucht es jene Resonanzen, die Rosa anspricht. Gerade auch, um Missbrauch (gleich welcher Herkunft) zu verwerfen und zu beenden. In Zeiten, die zu Recht die monströsen Missbräuche in der Kirche mit immer neuen Erkenntnissen ausstellen, zuletzt etwa in Freiburg rund um Robert Zollitsch, wird sich auch die Verfasstheit der katholischen Kirche verändern müssen, will sie nicht zu einer kleinen Entität schrumpfen, die nichts mehr zu verkündigen hätte.

Ingo-Maria Langen, Juni 2023