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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Das Weinberg Paradoxon

Georg Rainer Hofmann
Das Weinberg-Paradoxon
Kann es gutes Fehlverhalten geben?
Ein Essay über nicht-normative Ethik

wbg Academic
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2019
93 Seiten, fester Einband, 20.- €

Georg Rainer Hofmann, Prof. Dr. Ing., Direktor des Information Management Instituts an der Technischen Hochschule Aschaffenburg. Neben fachspezifischen Forschungen (Informatik, Volkswirtschaft, Philosophie), widmet er sich dem kritisch-rationalen Diskurs zu technischen, gesellschaftlichen und ethischen Fragen. Dazu gehören u.a. Leitbilder und Strategien der Unternehmensführung, digitaler Wandel, digitale Märkte bzw. die Akzeptanz von Informationstechnologie.

Feature

Zu den großen Themem menschlicher Vergesellschaftung gehört das Motiv der Regelsetzung. Wie sonst ließen sich Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und nicht zuletzt der Schutz des Einzelnen vor Übergriffen Dritter (auch der Geselslchaft selbst) in der Praxis sicherstellen? So denknotwendig dies dem Leser erscheinen mag, so komplex, kompliziert und manchmal paradox erweist sich unser Leben in Bezug darauf. Der Essay wagt einen translozierten Ausblick auf diverse Gesellschaftsfelder, ausgehend von einem normativ-kritischen Ethik-Ansatz am Weinberg-Beispiel aus Mat. 20, 16, ergänzt um Mat. 5, 17-20. In dieser Ergänzung zeigt sich explizit der Gegenstand einer „nicht-normativen Ethik”: nicht gekommen, um zu zerstören, sondern zu erfüllen. Dabei gilt es die Kleingläubigkeit der Pharisäher aufzulösen in einem umfangreicheren ethischen Ansatz, der nicht-normative Korrekturelemente einschließt. Ethik wird hier durchaus als System von Bedingungen aufgefasst, die sich mit den Voraussetzungen und Bewertungen menschlichen Handlens befassen, insbesondere hinsichtlich der Moral, die sie kritsch beschreibt und beurteilt. Zentrale Fragestellung ist der Satz vom richtigen Handeln.

Dafür bietet das Weinberg-Gleichnis einen guten Einstieg. Hofmann erläutert sowohl das sprachlich-narrative Feld, als auch den bildspendenden Bereich und die Bildfeldtratidion. Die Erkenntnisse bindet er zurück auf Beispiele aus der Lebenswelt des heutigen Lesers. Sowohl in der Einzelbetrachtung als auch in der Zusammenschau wird deutlich: eine sklavische Normenschau läuft weit an der (Einzelfall)Gerechtigkeit vorbei. Auch wenn diese im tagesgeschäftlichen Handeln der Gesellschaft das Ideal bleibt, das kaum zu verwirklichen ist, so muss doch genug Raum sein für ein „Atmen” des Systems. Eine bekannte Rechtsfigur dafür ist das „Ermessen” im öffentlichen Recht. Der Normrechtssachverhalt wird eingeschränkt bzw. „angepasst”, um in eine verhältnismässige Beurteilung zu gelangen. Letztlich wird Gerechtigkeit immer ein Apporiximativ gegnüber dem Ideal bleiben, gleichwohl sind wir gehalten genau das anzustreben. Denn Normen sind per definitionem: abstrakt, funktional, auf eine Vielzahl Fälle anwendbar. Dabei ist etwa „soziale Gerechtigkeit” ein Terminus, der die gesellschaftliche Debatte auch zu jesuanischer Zeit beherrschte: Wie können wir gerade die Schwächsten so in die Gemeinschaft einbinden, dass sie ausreichend Unterstützung erlangen, um ihr kreatives Potenzial in die Gemeinschaft einbringen zu können?

Hofmann bildet drei Fallkategorien des Alltags, die er mit dem Satz vom guten Handeln abgleicht. Für einen ersten Einstieg stellt er das Weinberg-Beispiel vor: Der Unternehmer heuert bis zum späten Abend immer wieder Personal an, um bei ihm für einen Denar am Tag zu arbeiten. Der Tageslohn entsprach einem Familienunterhalt. Unter dem Gesichtspunkt der „guten Tat“ bekommen auch noch die Letzten, die kaum mehr eine Stunde Tagesarbeit leisten können, denselben Lohn wie die frühmorgendlich Angeheuerten. Der Protest ist unausweichlich. Die Verhältnismäßigkeit der Entlohnung scheint unterlaufen. Und doch bleibt die „gute Tat“ des Eigentümers mit Blick auf die soziale Situation der Tagelöhner gerecht, da diese nicht jeden Tag zu ihrem Lohn kommen, die Familien hungern müssen. Die individuelle Ungerechtigkeit wird mithin durch das höhere Ziel der Gerechtigkeit gegenüber den schwächeren Gemeinschaftsmitgliedern aufgehoben.

Gleichwohl lässt sich aus diesem „guten Fehlverhalten“ kein allgemeiner Maßstab ableiten: Zum einen setzte er falsche Anreize gegenüber dem Markt, zum anderen blutete er das Geschäft dermaßen aus, dass der Ruin drohte. Kollegen des Weinbergbesitzers würden dem kaum nachfolgen. Das Verhalten des Weinbergeigentümers bleibt paradox, im Sinne einer langfristigen Strategie ist es nicht tragbar.

Damit ist für die Gemeinschaft die Frage nach der Herrschaft verknüpft. Da ist es in historischen Zeiten kaum anderes als heute zu solchen einer Pandemie zu beobachten. Obschon enormes technisches Wissen vorhanden ist, tendieren viele von uns doch dazu Alpha-Entscheidungsfiguren eher zu vertrauen und ihren Kurs zu billigen, als sich selbst einzubringen, kritisch reflexiv zu bleiben. Eine normrepräsentierende Hierarchie wirkt entlastend („die müssen sich ja kümmern“) und ich bin ‚erlöst‘. Spätestens mit der Pandemie haben wir gesehen, das geht nicht. Der „mündige Bürger“ muss (!) mithelfen, die richtigen Entscheidungen zu finden, zu tragen und durchzuhalten. Das ist anstrengend. Eine Reduktion von Komplexität über Funktionszuweisungen (A. Gehlen: Entlastung durch Institutionen) ist ein durchgängiges Wirkprinzip (freiheitlich) verfasster Gesellschaften. Hofmann sieht im Bestreben Alpha-Individuen zu folgen gleichsam eine anthropogene Konstituante.

Der Normenkatalog soll der Gemeinschaft dabei helfen zu unterscheiden zwischen Statthaftem und Verbotenem. Damit wird Zugehörigkeit und Ausschluss kreiert. Dahinter verbirgt sich allerdings ein weiteres „Paradoxon“: Mit der Codierung der Rechtssysteme erhält eine exklusive Klientel ausschließlichen Zugang zu gestalterischen Provisorien, die es ermöglichen, einem Irrgarten gleich, insbesondere in angelsächsischen Systemen Fokusoperationen zu gestalten: von der Wahl des Gerichtsstands, über die passende Anklagebehörde oder die Wahl eines gewogenen Richters bis hin zum Profiling der Jurys. Durch ihren Normierungsansatz und die ausdifferenzierte Kodifizierung ist dies im deutschen Rechtsbereich eher wenig ausgeprägt. Aber auch hier gibt es Vorgehensweisen: sogenannte „Deals“ im Strafrecht nehmen zu, obwohl sie unserem Rechtssystem fremd sind. Die größeren privatrechtlichen Freiräume werden dazu genutzt, Rechtsfortbildung gerade im Interesse potenter wirtschaftlicher Akteure zu nutzen (K. Pistor: „Der Code des Kapitals“). Kurz gefasst: Die Freiheit zur Rechtsgestaltung wird marktoptimiert, um Margen zu schaffen und zu erhöhen. Für den Staat bleibt da nur noch die Aufgabe gesellschaftliche Schäden zu reparieren. (Die aktuelle Diskussion um die Steuerehrlichkeit multinationaler Digitalkonzerne und die Antwort der G7 darauf ist paradigmatisch). Bislang herrschte nur das Bewusstsein von Ohnmacht in den nationalen Steuerbehörden vor. Das erinnert an die Parabel vom Türhüter, der vorgibt den Mann am Tor nicht einlassen zu können, um hernach zu konstatieren, dass dieses Tor einzig nur für diesen Mann gemacht sei, er gehe nun und schließe es. Ein Rechtssystem ist ein scharfes Schwert, dessen Führen wir immer auch im Blick auf die allgemeinen Folgen betrachten müssen. Privilegierte Zugehörigkeit heißt in einem solchen Fall: Expertokratie vor Gemeinwohl.

Auch der Rekurs auf den kantischen „kategorischen Imperativ“ hilft nicht weiter: ihm müsste erst einmal eine konkrete sozialkontextuale Gebundenheit unterlegt werden, ansonsten bleiben wir in der praxisfernen Metaebene. Hans Kelsen qualifizierte Kants Überlegung als „inhaltslos“.

Der Unvollständigkeitssatz normativer Rechtssysteme lässt sich bereits aus der Orestie des Aischylos herleiten: Im Mordprozess gegen Orestes greift Athene ein, um eine folgenschwere Entwicklung zu blockieren – fortgesetzte Akte der Rache. Die Stimmengleichheit des Spruchkörpers löst Athene mit ihrer Stimme zugunsten eines Freispruchs auf. Indes bedeutet dies einen Normbruch. Doch nur über dieses „Paradoxon“ gelingt eine Aufhebung im Sinne höherer Gerechtigkeit. Die Gnade dieses Urteils erweist für den Zuschauer als singulär: sie begründet keine Kasuistik. Gleichwohl stiftet sie Rechtsfrieden – auch wenn die Erinnyen grummeln. Ein ähnliches „Paradoxon“ findet sich im Buch ‚Judith‘. Hier rettet die verwitwete Judith Israel vor der Knechtschaft und der Zerstörung des Tempels mittels der Enthauptung des Holofernes. Sie avanciert dabei zur Verkörperung der Ecclesia militans wie auch der Präfiguration Mariens und der Kirche (B. Uppenkamp). Auch das blieb nicht unwidersprochen: Für die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschafts-vorstellungen galt die Überzeugung des Auseinanderbrechens gesellschaftlicher Strukturen, etablierte sich ein derartiges Frauenbild. – Lebenswirklichkeit prägt Rechtswirklichkeit, so oder so. Die nicht-normative Ethik weist hier ihrer formalen Schwester den Weg.

Im umgekehrten Fall der Hinrichtung Jesu bringt die Dichotomie normativ – nicht-normativ keinen Ausweg: die „gesetzestreuen“ Bürger zeigen eine reaktionäre Haltung und verbünden sich mit den „Wutbürgern“, die nur ihren Hass auf jedes und jeden ausleben wollen, um sich einmal nicht als „Zukurzgekommene“ fühlen zu müssen. Pilatus beugt sich (im eigenen Interesse) dem Mob. Hofmann: „Die nicht-normative Ethik entzieht sich per definitionem einer Normierung. Das ist das große Dilemma der nicht-normativen Ethik – sie kann nicht Teil des normativen Systems werden, das das Zusammenleben in der Gesellschaft verbindlich regelt. Es bleibt die Aufgabe der konkreten humanitären Situation.“

Fazit: Und es bleibt ein Spannungsfeld: Während die Frage „Was soll ich tun?“ normativ nicht abschließend beantwortet werden kann, begründet die Freiheit in der Gestaltung einer nicht-normativen Ethik im jeweiligen Sozialkontext ebenso die Möglichkeit unauflösbarer Paradoxa.

Ingo-Maria Langen, Juni 2021