Frank Schwamborn
„Das Verlassen eines Landes ist eine Art Hygiene“
Anselm Kiefer und W.G. Sebald
Weimarer Beiträge
Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften
2/2021, 67. Jahrgang, Einzelheft 22.- €
Frank Schwamborn, Studium in Bonn und München, seit 1992 in Japan, Lektor an der Shinshu-University in Matsumoto (Nagano-Präfektur). Ab 2002 Professor für Deutsche Literatur und Deutsch als Fremdsprache in Morioka an der Iwate-Universität.
Feature
In fiktionalen Texten liegt das größte Spannungsmoment häufig in der Verknüpfung des scheinbar Widersprüchlichen. Bedient der Widerspruch doch bei den meisten Lesern einen doppelten Erfahrungshorizont. Zum einen den der Logik und zum anderen den der (unlogischen) Vorurteile. In seinem Aufsatz für die „Weimarer Beiträge“ unternimmt Frank Schwamborn den Versuch zwei (scheinbar) vollkommen gegensätzliche Persönlichkeiten miteinander zu verbinden. – Ein gelungenes Unterfangen wie der Leser bald feststellen wird.
Kein Mensch ohne Ort
Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler W.G. Sebald wird dem (skandalbewährten) Maler und „Installationskünstler“ Anselm Kiefer kontrastiert. Auf den ersten Blick: der ästhetisierende Moralist Sebald gegen den „megalomanen Großkünstler“ Kiefer. Das dialektische Spannungsverhältnis könnte zunächst nicht größer sein: Es stehen „Blut-und-Boden-Motive“ Kiefers, der Bombentrichter als „etwas Wunderbares“ stilisierte oder Ruinen einen besonderen ästhetischen Reiz abzugewinnen vermochte oder „Bunker sind hochinteressante Gebilde von einer wunderbaren Schönheit“ gegen die „monolithische Ausgeburt der Hässlichkeit und blinden Gewalt“ (Sebald). Was soll das sein: „Spiritualität des Betons“ (Kiefer) hätte Sebald entgegnet. Spannend und aufschlussreich zugleich ist das nachfolgende Porträt beider.
Der Titel „Das Verlassen eines Landes ist eine Art Hygiene“ umfasst zwei Topoi: den Ort und die Zeit. Fürs erste ließe sich die Frage stellen: Was bedeutet das Verlassen eines Ortes, den man nicht hat? Anders gewendet: Lässt sich die „Heimat“ verlassen, wenn man sie zuvor nie in „Besitz“ genommen hat? Eine sozialpsychologisch schwierige Frage, durchlaufen wir doch alle eine kultur- und ortsgeprägte Sozialisation. Wir nehmen an, nehmen mit, was uns auf diesem Weg begegnet. Oder können wir einen Ort verlassen, um an einem anderen (völlig) neu anzufangen? Die Emigrationsgeschichte scheint uns genau das nahezulegen. Und doch bleibt zumeist eine Rückgebundenheit, die auch am neuen Ort fortwirkt.
Schwamborn zeigt die Umwege beider Künstler auf, die erst im Ausland zu Ruhm und Anerkennung finden, bevor ihre Würdigung im Herkunftsland einsetzt. Sebald wechselte im Studium von Freiburg nach Fribourg und übersiedelte später nach England. Hier wurde er promoviert, doch die Habilitation erfolgte in Hamburg. Ab 1988 war er Professor für Neuere Deutsche Literatur an der University of East Anglia. Wer nun denkt, einen guten deutschen Ausgewanderten anzutreffen, den wird irritieren, dass Sebald nicht nur ein kontroverser und streitbarer Geist war, der noch kurz vor seinem Tod die Singularität des Holocaust leugnete und somit einen vielschichtigen Charakter zusammenzudenken wie er sich in Luftkrieg und Literatur oder den Ausgewanderten artikuliert. Ein Autor, der einerseits empfindsame NS-Opferbiografien nachzeichnen konnte und andererseits wüste Attacken auf Döblin oder Jurek Becker ritt. Wie geht das zusammen?
„Das Unvorstellbare in mir selbst abbilden“ (Kiefer)
Auf den ersten Blick anders liegt die Sache bei Kiefer. Beginnt seine künstlerische Entwicklung bereits mit einer „Skandal-Performance“: Mit Hitlergruß in Wehrmachtsuniform suchte er in „Besetzungen“ die „Simulation von Identifikation“ zu schaffen und publikumswirksam umzusetzen. Sie beinhaltete die ebenso heikle wie damals tabuisierte Frage: Wieviel Nazi steckt in mir? Ein ungeheurer Affront im Nachkriegsdeutschland. Das Land wurde damit indirekt konfrontiert mit der sehr viel später von Daniel Goldhagen geprägten Metapher von Hitlers willigen Vollstreckern – einem „Tätervolk“? Beide Protagonisten haben die Sicht auf Nazideutschland auf ihre Weise thematisiert und im Fall von Kiefer durchaus der zeithistorischen Forschung vorweggenommen. Noch heute werden Prozesse gegen einfache, „normale“ Helfer des Systems angestrengt wie im Fall der Sekretärin des KZ Stutthof. Insoweit ist Kunst ein Instrument der Erkenntnis (der Wahrheit) im Sinne der Poetik des Aristoteles.
„Den Faschismus auslöschen“ (Sebald)
Mit ähnlicher Intention, aber differenten Mitteln rückte Sebald der gerade abgelaufenen Zeit mit einem Zeichen an der eigenen Person zu Leibe: Die Einkürzung der eigenen (verhassten) Vornamen sollte eine maximal persönliche Distanz herstellen – obschon beide Künstler nach 1945 geboren wurden. Beide erlebten sowohl das existenzielle Zurückgeworfensein in den Trümmerlandschaften als auch die Bigotterie und Geschichtsvergessenheit der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Einer Gesellschaft, in die trotz „Entnazifizierung“ viele Positionen bis in hohe Staats- oder Regierungsämter, in der Verwaltung, der Justiz mit ehemals braunem Personal besetzt waren, ohne dass sich die Öffentlichkeit daran störte. Der genius loci, die Seele des Ortes, war beiden Prägestempel, die Sebald als „Zeitheimat“ beschrieb, während Kiefer seinen Eindrücken dazu über die „Malerei der verbrannten Erde“ Ausdruck verlieh.
In einem ambivalenten Sinne war beiden der (deutsche) Ort zur Abneigung, zum Unbehagen geworden, und doch wieder Schaffensgrund. Wir können uns diesem Grund bewusst nähern (cf. Roberta Rio: Der Topophilia-Effekt), nach Kraftorten Ausschau halten oder die mit uns verbundenen Orte als Spiegel von Teilen unserer Seele erforschen (C. G. Jung) und den korrespondierenden inneren Resonanzen nachspüren. Die damit verbundene Frage lautet: Was macht das mit uns? Allein das Unbehagen gegenüber einem Ort kann kreative Potenziale freisetzen, für die beide Protagonisten paradigmatisch gelten dürfen. Ist etwa „Heimat“ als soziokultureller Begriff für sich ausreichend, um Prägemuster in uns anzulegen? Die schwäbische Alb oder die norddeutsche Tiefebene? Vorliegend eher die in der Zeithistorie verstrickten Eltern und deren gesellschaftliches Umfeld, die selbstverständlich ihre eigenen örtlichen Rückbezüge mit Einfluss auf die Kinder hatten.
Zeitinventur
Immer wieder nehmen die beiden Künstler in ihren Zufluchtsländern Bezug zum „Alten“: in „Künstlerischer Trauerarbeit“ (Kiefer) oder als „Gedächtniskünstler“ (Sebald). Dergestalt betten sie den Holocaust ein in erweiterte Gedächtnisfelder, gewinnen der Zerstörung eine „Aschen-Fruchtbarkeit“ ab (Kiefer). Schwamborn zeigt anhand einer Reihe bestechender Beispiele, mit welchen Mitteln sie die Abbildung des Alten, das doch im Neuen fortwirkt, zu plastizieren versuchen. So stellt Sebald die zeithistorischen Entwicklungen in die Verbindung mit der Wirtschaftsgeschichte: bruchlinienlos führte die Entwicklung der einen zur politischen Tragödie der anderen. Anthropologische Skepsis verbindet beide: „Der Mensch ist falsch konstruiert“ (Kiefer)oder „Es ist tatsächlich der Mensch eine perverse Spezies, eine um ihren gesunden Tierverstand gekommene Spezies“ (Sebald).
Die Mnemosyne der Erinnerung kontextualisiert ein unterhalb dieser Erkenntnis liegendes Leitmotiv: Die Anbindung sowohl Sebalds als auch Kiefers an die deutsche Romantik und ihren emblematischen Bezug. Bei Kiefer als seinen bildhaften Ausdruck in „aborale(n) Tabernakel(n)“ findend, während Schwamborn in der Sebald-Forschung einen Mangel an Forschungstiefe ausmacht. Ein Desideratum also, das es demnächst zu füllen gilt. Schwamborn arbeitet für Kiefer das romantische Wald-Motiv und seinen nationalen Patriotismus-Bezug zu deren bekannten Vertretern sowie dessen Missbrauch durch die Nazis sauber heraus, über deren Vereinnahmung, Überhöhung und Indienstnahme die Gefühls- und Gedankenwelt national gesinnter Deutscher manipuliert und zweckbestimmt wurden.
Sebald begegnet dieser immerwährenden Zeitinventur mit seinem Roman „Austerlitz“. Darin begibt sich der über sechzigjährige Protagonist auf die Suche nach seiner Herkunft. Der jüdische Name Austerlitz ist nicht nur historisch, sondern lässt sich räumlich wie zeitlich fassen: Austerlitz, der Sieg Napoleons über Österreich, zum Ruhm Frankreichs schmückt ein Bahnhof diesen Namen und das Areal „Les Galéries d’Austerlitz“ auf dem seit der Präsidentschaft Mitterands die „Bibliothèque nationale de France“ residiert, das vormals die Nazis zur Aufbewahrung konfiszierten jüdischen Eigentums nutzten. Schließlich: die Mahnung an Auschwitz (diese allegorische Deutung nachzulesen bei: Andreas Huyssen, Deutsche Literaturgeschichte).
Ort und Zeit werden von Kiefer und Sebald nicht nur im Zusammenhang mit der Schoah aufgearbeitet. Sie finden Anknüpfungspunkte in der jüdischen Kabbala und deren bildreichem, mystischem Urgrund. Hier steht das Denken in Bildern (Gershom Scholem) im Vordergrund, ähnlich wie zu Zeiten der Griechen und ihrer Mythen. Kiefer betitelt ganze Werkzyklen nach kabbalistischen Motiven, Sebald schreibt im Vorwort zu seiner Habilitation „von den ‚kabbalistischen Verwicklungen des Kafkaschen Werks‘“, so Schwamborn. Die jüdische Geschichte ist zutiefst von Traumata geprägt. Nochmals Schwamborn: „Die beiden Tempelzerstörungen symbolisieren gleichermaßen Emigration und Exil, Jahrtausende währende Diaspora. In der jüdischen Tradition und Liturgie werden sie vielfach zusammengedacht – und oft verbunden mit Gedanken an den Holocaust (als der dritten).“ – Mehr braucht es nicht, um Empathie und Betroffenheit zu erzeugen. Dieser Aufsatz lädt (auch) dazu ein.
Fazit: Frank Schwamborn legt mit seinem Aufsatz die erste vergleichende Gegenüberstellung von Sebald und Kiefer vor. Die äußerst gelungene Darstellung weist über literarische Anknüpfungspunkte hinaus auf soziokulturelle von Zeit und Ort, denen wir uns (immer wieder) stellen müssen. Am Beispiel des scheinbar untauglichen Vergleichs der beiden unvergleichlichen Figuren scheint das Allgemeine im Besondern auf: Die nachwirkende Kraft von Zeit und Ort auf das kreative künstlerische Schaffen in der individuellen Auseinandersetzung mit Herkunft und Sozialisation. Auf je unvergleichliche Weise haben Sebald und Kiefer das bewältigt. Schwamborn gebührt das Verdienst dies als erster schlüssig und differenziert erarbeitet zu haben.
Ingo-Maria Langen, Juli 2021