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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Das unzufriedene Volk

Detlef Pollack
Das unzufriedene Volk
Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute

transcript, Bielefeld 2020
232 Seiten, 20.- €

Spotlight

Detlef Pollack lehrt Religionssoziologie an der Universität Münster. Er ist stellvertretender Sprecher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“. Er hatte Professuren in Leipzig, Frankfurt/Oder und New York inne.

Das Narrativ vom ewig benachteiligten „Ostdeutschen“, vom ewig zu-kurz-Gekommenen, einem nur passiv die Geschichte erduldenden Mitbürger hält sich auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung. Es entspricht in der Breite allerdings nicht den Tatsachen. Wie in anderen Fällen auch betreibt eine Minderheit ein sehr lautes Geschäft, das die Zuschauer glauben machen soll, was ihre politischen Parolen ausweisen: mit selbst gebauten Galgen auf Pegida-Demonstrationen gegen das „System“ anzugehen, die „Lügenpresse“ zur Verantwortung zu ziehen und der politischen Elite die Weltverschwörung zu unterstellen.

Dazu hat der Soziologe Pollack eine neue Studie vorgelegt, die mit dieser Wahrnehmung, gestützt auf empirische Befunde, aufräumt: „Auch wenn sie sich heute als Opfer stilisieren: Die Ostdeutschen haben sich von der friedlichen Revolution bis heute als politisch einflussreicher Akteur erwiesen.“ Fallstudien (Plauen, Arnstadt, Dresden, Berlin, Leipzig) zeigen: „Die Massenproteste gingen überall von der Bevölkerung und nicht von den oppositionelle Gruppen aus: In Plauen kamen die Protestaufrufe von isoliert handelnden Einzelpersonen, in Dresden von Ausreisewilligen, in Leipzig von der Bevölkerung, die auf den Nikolaikirchhof drängte.“ Vergleichbares galt in der Zeit danach, als die Rufe nach der Wirtschafts- und Währungsunion deren Verwirklichung noch der vor der staatlichen Wiedervereinigung erzwangen.

Es erfolgten schmerzhafte Anpassungsprozesse für die ostdeutsche Bevölkerung, die eine lange Zeit des Rückzugs ins Private und der Bewältigung der individuellen Herausforderungen mit sich brachte. Mit Pegida und AfD meldeten sich Teile dieser Menschen nun über eine starke Unterstützung rechtspopulistischer Strömungen zurück. Ein doppelter Erfolg: der Schock der politischen Elite und die öffentliche Aufmerksamkeit im Westen. Die Analyse Pollacks deutet darauf hin, dass nicht die materielle Benachteiligung Motivation für die Schocktherapie des politischen Systems ist: „Vielmehr haben Erfahrungen der Nichtanerkennung, Gefühle der Unterlegenheit und Formen der Selbststigmatisierung in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung eine ressentimentgeladene Affektlage entstehen lassen, die in bestimmten Milieus einen äußerst fruchtbaren Boden gefunden hat.“ Für die Mehrheit der Ostdeutschen gilt, dass sie sich im parlamentarisch-demokratischen Staat Deutschland eingerichtet hat.

Gleichwohl zwingt die laute Minderheit über ihre Wahlentscheidungen der Mehrheit den Stempel auf, indem sie versucht, sich zum Sprecher aller Ostdeutschen zu stilisieren. Es bleibt für die bundesdeutsche Politik eine Herausforderung, zum einen den integrierten Teilen der Bevölkerung weiter Rechnung zu tragen, aber zum anderen auch, darüber nachzudenken, ob die Unzufriedenheit mit Angeboten zur Selbstaufwertung eine Basis schaffen kann, um politisch fragwürdige Strömungen auszutrocknen. Dies muss jedoch im Selbstinteresse der Betroffenen geschehen, nicht als quasi-pädagogische Maßnahme. Einen dauerhaften Verlust von etwa einem Viertel der ostdeutschen Bevölkerung kann und sollte Deutschland insgesamt sich nicht leisten (wollen).

Ingo-Maria Langen, Oktober 2020