Yascha Mounk
Das große Experiment
Wie Diversität die Demokratie bedroht und bereichert
Droemer Verlag, München 2022
352 Seiten, 22.- €
Panta rhei – Alles fließt
Die gegenwärtigen (globalen) Krisen stellen insbesondere westliche Demokratien und ihre Gesellschaften vor große Herausforderungen, die in ihrer Gleichzeitigkeit an den Grundfesten ihrer Verfasstheit zerren und bisweilen dystopische oder apokalyptische Bilder in der öffentlichen Wahrnehmung produzieren: Klimakrise, Pandemie, Krieg Russlands gegen die Ukraine, Drohung mit einem Atomschlag gegen den Westen. Angst und Unsicherheit sind die Folge. Zu diesen äußeren Faktoren treten innere hinzu: Inflation, eine mögliche Wirtschaftskrise, Flüchtlingsströme, bereits vor dem Krieg äußerten zwei Drittel der Deutschen Zukunftsängste.
Das von Mounk vorgelegte Buch trifft einen Nerv: Die sich ohnehin bedroht fühlenden Teile unserer westlichen Gesellschaften verstehen das „Experiment“ als Angriff auf ihre kulturelle Identität. Hassbotschaften an den Autor, von der Verweigerung in ein Experiment bis hin zum „Beweis“ des Bevölkerungsaustauschs und der Weltverschwörung zeugen davon. Zumeist dürften diese Leute das Buch nicht gelesen haben, zumal es gerade erst in diesem Monat auf Deutsch erschienen ist. Worum geht es? Mounk wagt einen Aufschlag zu einem zukunftsorientierten Demokratieentwurf. Der auf den ersten Blick provokante Titel zeigt einen Bogen auf, der von den Gründervätern der amerikanischen Demokratie bis hin zur heutigen Verfasstheit demokratischer Staaten (und ihren gescheiterten Versionen etwa in Südamerika) reicht. Das in leicht verständlicher Sprache gehaltene Buch kommt (leider) ohne methodischen Teil aus. Dieser hätte den Vorzug geboten, die zumeist kausale Logik zu durchbrechen und an einigen Stellen Annahmen hinterfragen zu können. Die Referenzliste an Literatur ist gleichwohl gut, Nachvollziehbarkeit unter diesem Gesichtspunkt gegeben.
Mounk argumentiert, die Herausforderungen von Globalisierung, Migration und Identitätspolitik bewirkten ein mehrfaches Spannungserlebnis in der Gesellschaft, dem die Politik hilflos bis dirigistisch gegenüberstehe. Die Steuerung einer zunehmend multiethnischen Gesellschaft gerate in Gefahr ihre liberalen Wurzeln zu vernachlässigen. Zugleich bedürfe eine solche Gesellschaft, die er als diverse Demokratie beschreibt, neuer Konzepte, um zukunftsfest zu werden. Die liberale Demokratie ist der Nukleus, der Individualität versus Gemeinschaft bindet, ganz ohne Diversität als Etikettenschwindel zu betreiben oder diese auf Kosten demokratischer Gemeinsamkeiten (besonders) zu fördern.
Die gesellschaftlichen Baustellen sind vielfältig. Seit Bestehen der Bundesrepublik galt das Mantra: Wir sind kein Einwanderungsland. Noch in den Achtzigern wurden Debatten zu diesem Thema mit „Das Boot ist voll“ gedeckelt. Für die erste „Gastarbeitergeneration“ ging man stillschweigend davon aus, diese werde wieder heimkehren. Doch sie blieb, Spanier, Italiener, Portugiesen kamen ins Land und blieben. Sie bereichern unsere (biedere) Kulturtradition mit Elementen aus ihren Herkunftsländern und tragen zur gegenseitigen Verständigung bei. In einem aktuellen Interview (WN 02.04.2022) äußert der Hongkonger Aktivist Ray Wong, der seit 2019 Asyl in Deutschland hat, westliche Länder, gerade auch Deutschland, hätten vergessen, dass Freiheit einen Preis habe. Den müssen wir bereit sein zu zahlen. Das gilt in gleicher Weise für die Entwicklung unserer (bereits heute schon) diversen Gesellschaft.
Divers und inklusiv
Vieles im Leben ist eine Frage der Perspektive und des Maßstabs, beide kann man wechseln. Und vieles ist Konstrukt. Die Organisation unseres Lebens auf diesem Planeten, aufgeteilt in Staaten mit bestimmten Grenzen, kulturellen Einflusszonen ist dem geschuldet. Das Narrativ einer homogenen Volksgemeinschaft ist gleichfalls ein Konstrukt, das es der herrschenden politischen Macht ermöglichen soll, ihre Bürger und damit verbunden die öffentliche Meinung lenkbar zu halten. Doch auch Narrative ändern sich. Mounk zeigt auf, dass wir von anthropologischen Konstanten getrieben sind: das Verlangen nach Schutz (Sicherheit), Gemeinschaft (Sprache / Kultur), Anerkennung und Besitz sind atavistische Bedürfnisse und Verhaltensweisen. In diversen Gesellschaften, solchen mit einem signifikanten Migrationsanteil, stellt sich inzwischen die Frage nach spezifischer Förderung von Gruppen, um mögliche Benachteiligungen aufzuheben. Was vom Grundsatz her zu begrüßen ist, bleibt in Praxis schwierig. Das historische Credo ist eindeutig: Meinungs- und Pressefreiheit, Bürgerrechte und unabhängige Institutionen (Rechtsstaat) sollen Benachteiligung ausschließen. Doch auch darin kann eine Benachteiligung eingeschlossen sein. Mounk zitiert Heidi Schreck, eine US-Dramaturgin, mit der Antwort auf die Frage nach dem Scheitern der Verfassung: „Ich glaube nicht, dass unsere Verfassung scheitert. Ich glaube, sie tut genau das, was sie von Anfang an tun sollte: Sie schützt die Interessen einer kleinen Anzahl reicher weißer Männer.“ Das ist eine volle Breitseite auf das Allerheiligste der US-amerikanischen Politik. Wer sich da positioniert, setzt sich dem Verdacht und dem Vorwurf aus, die Axt an die Wurzel der (ach so) liberalen Gesellschaft zu legen. Das bigotte Tamtam um die Constitution ist der Gesellschaft inklusive ihrer ethnisch vielfältigen Vertreter so tief eingebrannt, dass kritisches Denken und Schreiben dazu als Sakrileg gilt. Kritisch-historische Interpretation mit einer ‚Übersetzung‘ ins Heute findet dort nur wenig Anklang. Buchstabentreue ist lange keine Prinzipientreue. Das hat praktische Bedeutung: Wenn einzelne Bundesstaaten ihre Wahlbezirke und den Zugang zu den Wahllokalen gerade für benachteiligte Gruppen zuschneiden und Hürden des Zugangs errichten, dann schränken sie eines der elementarsten Grundrechte ein. Das kann nicht im Sinne der Verfassung sein, wird aber aus politischem Kalkül hingenommen.
Identifikationsbasis
Mounk diskutiert die Möglichkeiten von Identifikation jenseits von Gruppenloyalität. Kann Patriotismus und speziell Verfassungspatriotismus dies leisten oder erliegen wir in der ersten Form schnell der Übersteigerung, Ausgrenzung und Feindzuschreibung? In der zweiten Variante der blutleeren Kopfgeburt, die uns emotional kalt lässt? Ein kurzer Rückblick auf die Frühgeschichte der Bundesrepublik verdeutlicht, bis zu den 68er Protesten erhielt die Nachkriegsgesellschaft keine Sozialisation. Politik und Establishment versuchten patriarchalische Strukturen zu bewahren, höchstrichterlich urteilte der BGH 1966 zur ehelichen Gemeinschaft, die Frau müsse den Beischlaf mit Zuneigung und Opferbereitschaft (!) ermöglichen; die Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 (!) strafbar. Die moralische Empörung, die wir heute dazu empfinden, gab es damals nicht. Obwohl unser moralisches Gehäuse emotional ist, Angst, Wut, Ekel, Scham und Schuld uns täglich begleiten, werden diese über Gruppenreferenz und -loyalität eingehegt. Angst, Wut, Ekel, Scham, Schuld, sie alle triggern unser moralisches Empfinden. Oft ist kein Überlegen, schon gar kein Wägen von Argumenten nötig (noch möglich), denn die Empörung über einen Sachverhalt drückt sich unmittelbar in unserem moralischen Empfinden aus. Wir können nicht leugnen, was unsere Basis ausmacht: Wir neigen zum Stammesdenken, vertrauen Hierarchien (Gehlen hat das in seinem soziologischen Modell über die Institutionen gut verdeutlicht), sehnen uns nach Anerkennung und Zugehörigkeit, empfinden Angst und Abwehr gegenüber dem Unbekannten und Fremden. Das ist unsere biologische Disposition.
Emotionen bilden Lebensthemen ab
Von besonderem Interesse sind dabei Angst und Ekel, weil sie nachhaltigen Steuerungscharakter entfalten. Angst bestimmt uns dazu, vorsichtig zu sein, uns mehr als nötig rückzuversichern, möglicherweise uns zu bewaffnen. Tunnelblick, Verteidigungsstrategie, Freund-Feind-Denken. Wir schließen uns in der Enge ein. Reagieren irrational. Verfallen falsch-positiv oder falsch-negativ Zuordnungen. Und der Ekel, der inzwischen ein persönliches Warnmerkmal jenseits einer körperlichen Verunreinigung ist, treibt uns in eine politische Polarisierung von allem das fremd, unseren Werten und der Gruppe widersprechend ist. Zugehörigkeit ist hier der Schlüssel: Wir teilen die Werte der Gruppe, um nicht ausgeschlossen zu sein und sichern so unser Überleben nach innen wie nach außen (Feinde). Das ist Stammesdenken. Der Stamm ist aber immer noch unsere Basis. Soziologisch durchaus different: progressive Eliten treffen sich in Zirkeln, die multiethnisch und demokratieoffen sich auch um kleinere Strömungen in der Gesellschaft sorgen. Konservative reagieren auf die Komplexität und globale Vernetzung mit Abschottung und der Verteidigung der Scholle (ihrer Werte). Die Dynamiken beim Aufeinandertreffen dieser Gruppen können Ekel hervorrufen. Paart dieser sich mit Schuld, weil beim Gegenüber ein (objektives) Vergehen beobachtet wurde, entsteht daraus Abscheu. Tritt Aggression hinzu sind häufig Übersprungshandlungen zu beobachten. Die Entwicklungen der BLM-Bewegung sind paradigmatisch.
Grundprinzipien diverser Gesellschaften
Mounk legt die Basiselemente dar, die es braucht, um diverse Gesellschaften, die offen im Sinne Poppers sind, zu gestalten. Dazu gehören Respekt, Prinzipientreue, Selbstkritik (der eigenen Gruppe), Diskursstärke. Darüber hinaus müssen Gesellschaften Werte entwickeln, die gruppenübergreifend anerkannt und gelebt (verteidigt) werden. Bislang haben weiße Mehrheiten in USA und Westeuropa andere Gruppen dominiert und unterdrückt. Über den demografischen Wandel werden hier Änderungen eintreten. In den USA schicken sich die hispanischen Bevölkerungsteile bereits an, an der Dominanzrolle zu rütteln, andere Ethnien werden folgen. Solange wir demokratietechnisch in der Lage sein werden, Gleichheit und Gerechtigkeit herzustellen, wird das unter demografisch umgekehrten Vorzeichen nicht zu Verwerfungen führen. Scheitern diverse Demokratien jedoch, können vulnerable Gruppen unter die Räder extremer Teile der Bevölkerung gelangen. Ihre demokratischen Rechte könnten dauerhaft gefährdet sein.
Eine der Kernaufgaben diverser Demokratien ist es Bindungswirkung und Bindungsverhalten zu erzeugen. Fühle ich mich emotional gebunden, erwächst in mir ein Loyalitätsbedürfnis, weil ich erhalten möchte, was mich fördert, mir dienlich ist, mich schützt. Es wird zum selbstverständlichen Teil meines Lebens. Zugleich erfahre ich über das gegenseitige sich einbringen mit anderen Empathie, Respekt und Wertschätzung, Selbstwirksamkeit: zusammengenommen ließe sich auch von Sinnstiftung sprechen.
Mounk entwirft ein zukunftsorientiertes Bild moderner, inklusiver, diverser demokratischer Gesellschaften. Diese sind aller Arbeit und Mühen wert. Das Experiment ist bereits in der Welt. Es gilt, uns zu beteiligen, offene Gesellschaften zu gestalten und sie wehrhaft gegen ihre Feinde auszugestalten. – Das schaffen wir.
Bei Droemer erschienen: Der Zerfall der Demokratie (2018). Yascha Mounk, geboren 1982 in München, lehrt als Politikwissenschaftler an der John-Hopkins-Universität.
Ingo-Maria Langen, April 2022