Hans Belting / Lydia Haustein (Hrsg.)
Das Erbe der Bilder
Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt
C.H.Beck (1998)
Gedanken zum Essay „Der Ort der Bilder“ von Hans Belting
Der kürzlich verstorbene Autor, weltgewandter Vertreter seiner Profession als Kunsthistoriker (u.a. Wien, Harvard, Rom, New York), geht in der genannten Abhandlung der Frage nach, welche Funktionen Ort und Bild in der Sozialisation des Menschen einnehmen. Liefern sie, metaphorisch gesprochen, Augenblicke kürzerer oder längerer Schatten, in die wir eintauchen, uns mit jener Vertrautheit zu verbinden, deren späterer Verlust uns oft so schmerzt? Verluste erleiden und erdulden wir im Laufe der Zeit viele, ausgedrückt oft in Bildern, einem inneren Archiv, das verbrennt, stirbt ein Mensch. Dieses individuelle Erlöschen spiegelt sich nicht selten in einem kollektiven Erodieren ganzer Kulturen, die im Überlebenskampf mit anderen sie bedrängenden Kulturen ihre Traditionsorte verlieren. Ein aktuelles, ebenso nahes wie bis vor gut einem Jahr undenkbar scheinendes Ereignis ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Was bedeutet der Verlust geographischer Orte mit physischer Erinnerungspräsenz für den Menschen? In seiner Präsenz? Auf der Flucht? Der Ankunft in einer anderen (neuen) Kultur? Worauf wird dieser Mensch zurückgeworfen? Welche Übertragungswege der ererbten Kultur finden dann noch auf die nächste Generation statt?
Kulturen verlieren im Lauf der Zeit zunehmend ihre Traditionsorte. Rituale können helfen, das zu mindern, aufhalten können sie es nicht. Selbst bei der Übertragung von Bildern aus der Kultur an die nächste Generation bleibt ein dynamischer Verlust, der nicht ausgeglichen werden kann. Desto bedeutender ist die intrapersonale Beheimatung kultureller Orte. Die von ihnen ausgehenden Bilder drücken sich über die Kultursprache bis hin zur Körpersprache aus (kommunikatives Verhalten) und wirken wieder zurück auf die Person. Insbesondere bei symbolischen Bildern einer kollektiven Praxis (Bsp.: Liturgie). Hier strömen kollektive Tradition und individuelle Präferenz in eins. Doppelte Prägung, die den individuellen Bilderhaushalt füllt, ist zugleich Reservoire für die Akzeptanz (Ablehnung) von Bildern, die nicht im Reservoire enthalten sind. Zustimmung oder Ablehnung erfolgen zumeist auf emotional gelerntem Hintergrund (Angst, Ekel, Hass, Scham, Schuld etc.). So bewundern wir oder verabscheuen oder fürchten. Zumeist sind diese Emotionen mit Triggern verbunden. Kollektives löst sich in Individuellem auf, ohne dass die Person dies reflektiert, ein doppelter Selbstausdruck. Der natürliche Körper der Person drückt damit zugleich den kollektiven Körper (Kultur) der Gesellschaft aus. Erodieren Kulturen, vertritt das Individuum die sich auflösenden Sozialorganismen in der Art des Emigranten, der seine Bilder (in sich) mitnimmt und sie andernorts (wieder) neu entstehen lässt. Eine solche Transposition ermöglicht auch unter widrigen Umständen eine Übertragung der Bilder zwischen Generationen. Kultur als Ferment der Humanentwicklung.
Orte stehen in ihrer Realpräsenz für komplexe (dichte) Beschreibung lebensweltlicher Erfahrung. Nicht minder trifft das für ihre Imagination zu. Orte werden auf diese Weise zu Mitteilungs- oder Erinnerungsstätten, die ihren Charakter aus den Erlebniswelten formen, die wir beizeiten aus und mit ihnen erschufen. Kein Ort ohne menschliches Leben, sie wären Nicht-Orte. Orte wandeln sich zu Sinn-Mittlern für die Menschen dort, werden zu Kukturschlüsseln für Verhaltensweisen derer, die von dort herkommen und an anderen Orten siedeln. Ähnlich die Gedächtnisorte: sie entstehen aus dem Gefühl, dass es kein spontanes Gedächtnis gibt. Vielmehr müssen diese Orte (im umfänglichen Sinne) erschaffen werden: über Notate, Feiern, Rituale, Nachrufe. Aus ihnen formen sich Gedächtnisorte. Im besten Fall erzeugen sie Ergriffenheit, die den Besucher innerlich anrührt und ihn auf diese Weise den Genius loci erfahren lässt. Die Fallstricke zu einer aufgesetzten Erlebnispädagogik sind nicht gering, weshalb im klassisch antiken Sinn das Ziel für den Besucher eine „Katharsis“ sein sollte. Erst die emotionale Erfahrung bringt in uns jene Aufmerksamkeit und Bereitschaft zur Öffnung, die keine noch so professionelle (pädagogische) Methodik erzeugen könnte. Nur dann kann ein solcher Ort vor dem Untergang bewahrt werden. Das ist der eine Pfeiler. Der andere Pfeiler ist die innere Resonanz in uns selbst: In uns selbst ist er nur zu bewahren, dort brauche ich ihn nicht verteidigen. Anders beim Aufeinanderprallen von Kulturen, Eingesessene geraten unter Druck, an den Rändern infiltriert Fremdes, der Ort verwischt. Dann kann man Verlorenes nur aus der individuell gespeicherten Kollektiverinnerung in den Ort zurückgeben. Orte werden zu einem mehrschichtigen Palimpsest. Daraus folgt ein sich Überschneiden vom Gestern ins Heute, von Altem mit Neuem (Fremdem), abgegrenzten zu offenen Räumen. Die Synthese beider gelingt nur dem Einzelnen in seinem Inneren als eine Art Collagenhaus. Als Reisender zu stillgelegten Orten lokaler Kulturen, die nur in ihm als Ort der (alten) Bilder erhalten bleibt.
Belting zitiert Marc Augé: Ein Benutzer der Pariser Metro entdeckt die partielle Übereinstimmung seiner inneren Geologie mit der unterirdischen Geografie der Stadt. Seine Erinnerungen im Zusammenhang mit der Metro werden zum Blättern in einem Fotoalbum, das Einsicht in verschiedene Sedimente bietet: das Verkehrsnetz, die Menschen, ihre unterschiedlichen Ziele. Sie tragen ihre Schicksale aneinander vorbei, kennen einander nicht, relativieren den Kulturbegriff, werden zu Zeitreisenden an starren Bildern (Werbung) vorüber mit wechselnden Gefühlen, aber abgeschottet, ungeteilt, während diese starren Bilder zu einer rhythmischen Bewegung verschmelzen.
Erinnerungsmacht – Erinnerungsermächtigung
Die Bilder in uns: sie können von einer stillen bis zu einer bedrohlichen Macht heranwachsen, uns ermächtigen das Richtige zu tun. In unserem körperlichen Gedächtnis abgespeichert geben sie nur uns Zugang zur Macht der Erinnerung, die für unsere Selbstwahrnehmung eine Referenzgröße ist. Korreliert diese jener der Selbstwirksamkeit, erfreuen wir uns eigenständiger Lebenspraxis. Die vorgestellten Bilder in unserem Inneren sind unschärfer als ihre technischen Gegenstücke der Außenwelt. Und diese zirkulieren ohne jene persönliche Verknüpfung, die nur wir zu unseren Innenbildern herstellen können, denn sie leben in unserem körperlichen Gedächtnis. Deshalb setzten wir sie als Referenzgröße von Welt in und für uns. Während das Außen Orte für ein Gedächtnis der Bilder vorhält, ist das natürliche (körperliche) Gedächtnis Ort selbst. Dazwischen steht das kollektive Gedächtnis, das Kultur im ehrwürdigen wie im banalen Sinn bereithält, wie Belting spitz formuliert. Soweit die kollektive Identität zu uns gehört, bleibt diese auch dann in unserem Körperort abgespeichert, sollte sie sich auflösen: Das Ich, der alte Ort der Bilder, wird zum neuen Ort der Kulturen. Wie werden Orte zu Stätten der Erinnerung? Für Belting sind es die Geschichten, die ein Ort durchlebt hat, die Erinnungen erst ermöglichen. So tragen auch wir unsere Lebensgeschichte als Erinnerungswert in uns, die uns selbst zu einem Ort macht, so wie der Ort, an dem man lange lebt, einen zu diesem Ort selbst werden lässt: das Ineinandergreifen von Erinnerungsbildern. Zerfällt nun eine Kultur, verlieren wir was wir sind, die Orte und die Erinnerung, auf die Menschen auch miteinander angewiesen sind. Sie können dann nur an ihren eigenen Ort im eigenen Selbst anknüpfen, so sie selbst der verlorene Ort sind, bzw. diesen in sich tragen: Ortsansässigkeit, Heimat, besondere Erlebnisse, Kindheit, Gerüche, Geräusche, vertraute Menschen und Wege.
Doch: Erinnerungen können trügen. Es ist mitunter gefährlich, unsere Erinnerungen zum Gradmesser von Wirklichkeit zu machen. Aus der forensischen Psychologie kennen wir die false memories: Die gefestigte Überzeugung etwas erlebt zu haben, das in Wahrheit nie geschehen ist. Die Rechtspsychologin Julia Shaw forscht dazu an der London South Bank University. Ihre Untersuchungen zeigen, dass wir, geschickt gefragt und angeleitet, erfundene Erinnerungen mit eigenen emotionalen Bezügen besetzen, so dass wir immer mehr „verschüttete Erlebnisse“ ausgraben, die das in der Studie vorgegebene Erlebnis unterfütterten, obwohl es nicht stattgefunden hatte. Unser Gehirn kennt keine trennscharfe Unterscheidung zwischen Einbildung und Erinnerung, es mischt beides immer wieder. So finden geschickte Interessierte von außen einen Zugang zu unserem Inneren, das manipulativ missbraucht werden kann und wir selbst der „festen Überzeugung“ von Wahrheit sind. Ein trügerisches Bild, dem der Narziss in uns immer wieder aufsitzt.
Diese Reflexion als Warnhinweis in Begleitung, können wir dennoch danach fragen, wie sich in der äußeren Welt verlorene Orte wiederfinden lassen? Auf der Suche nach der Wiederentdeckung verlorener Orte, die wir aber nicht wieder finden, weil sie physisch nicht mehr existieren oder stark überformt sind, kann unsere Phantasie (und die zugehörige Seelenerfahrung) diesen Ort wieder erfinden, um uns in ihm auszudrücken: in Briefen, Literatur, Musik oder Erzählungen. Darin finden wir jene Identität, die wir am verlorenen Ort nicht mehr finden können. Mitten im Verlust von Identität entdecken wir eine neue, die uns ausmacht und erfüllt. Denn Identität ist (auch) eine Kreation unseres Selbst. Was heißt das fürs Zurechtfinden im Neuen, wenn wir nicht ausweichen können? Wenn alte (erlebte) Bilder uns hindern im Neuen anzukommen? Besichtigen wir die (gelungenen) baulichen Aufarbeitungen etwa der Weimarer Klassik, so mag es Betrachter geben, die den neuen Charme als unauthentisch ablehnen, weil ihnen das „alte“ Weimar aus der Vor-Wendezeit als charakteristische Lebens- und Erlebnisbühne aus ihrer Erinnerung fehlt. Ein (emotionaler) Widerspruch, der alte Bilder mit den neuen nicht übereinbringt. Dieser subjektive Widerspruch ist vielfach nicht leicht aufzulösen, weil dies von uns verlangt, unsere gelernte emotionale Verknüpfung dazu aufzuheben, sie zu entkoppeln. Das heißt Abschied zu nehmen, Verlust zu empfinden, sich von „Richtigem“ aus dem eigenen Leben zu verabschieden. Bedeutet das doch einen Verlust von Identität. Übertragen auf die renovierte Stadt: Wie lebt es sich in (neuer) Anonymität, Gleichgültigkeit, Unverbindlichkeit, Flüchtigkeit, Blasiertheit? Was sollen da bedeuten: Vorurteilslosigkeit, Gleichwertigkeit, Coolness, Ungebundenheit, Aufstiegschancen? Neue Sachlichkeit und Entfremdungskälte schaffen keine neuen Räume sozialer Vertrautheit, keine neuen „Wahlverwandtschaften“. Was ist mit den (politisch) heimatlos gewordenen, die ihre Heimat nicht verlassen können und nicht mehr dazu gehören, weil die Viertel gentrifiziert wurden? Das schafft keine neuen Identitäten. Im Stadtdschungel sind andere Werkzeuge gefordert: Distanzregeln, Schweigefähigkeit, Blickdisziplin, höfliche Gleichgültigkeit. Oberfläche gewinnt Substanz: musternde Blicke, sekundenlange Taxierung äußerer Erscheinung, Studieren von Körpersprache, Frühwarnsysteme für sozialen Umgang. Wie entsteht daraus Wohlbehagen im bewegten Kosmopolitismus einer Großstadt?
Ingo-Maria Langen, Februar 2023