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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Damals & Eine Frau schaut auf Männer die auf Frauen schauen

Siri Hustvedt
Damals
Roman

rororo, Hamburg 2019
444 Seiten, 12 Euro

Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen
Essays über Kunst, Geschlecht und Geist

rororo, Hamburg 2020
524 Seiten, 14 Euro

Für beide Titel: Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald

Spotlight im Paar

Siri Hustvedt, in Northfield, Minnesota geboren, studierte Literatur an der Columbia University und promovierte über Charles Dickens. Sie hat sich neben ihren Romanen auch als gefeierte Essaysitin hervorgetan. Sie ist verheiratet mit dem Schriftsteller Paul Auster.

Uli Aumüller übersetzte u.a. Jeffrey Eugenides, Nancy Housten, Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Milan Kundera. Sie erhielt den Paul-Celan-Preis und den Jane-Scatcherd-Preis.

Grete Osterwald ist mehrfache Preisträgerin, zuletzt ausgezeichnet mit dem Jane-Scatcherd-Preis in 2017. Sie übersetzt Alfred Jarry, Anka Muhlstein, Jacques Chessex, Jeffrey Eugenides u.a.

 

Das Leben – Ein kunstvolles Projekt

Unser Leben, es ist immer ein Vorausentwurf, wir können es im Lauf der Zeit umkrempeln, neu ausrichten, an einer Bifurkation (falsch) abbiegen, vom Kurs abkommen, ihn neu aufnehmen, aber nie können wir unsere Geschichte zurückblickend umschreiben. Die Person, zu der wir geworden sind, ist Geschichte. Was wir aber können, ist neue Perspektiven auf unser (gelebtes) Leben einnehmen, der Veränderung Rechnung tragen.

Siri Hustvedts Roman „Damals“ schaut zurück auf ihr junges Ich, seine Leiblichkeit, die psycho-soziale Einbettung und die Sicht der Neurowissenschaften auf die Biologie des Menschen. Dass wir keine lineare Lebens-Entwicklung nehmen, deutet schon der Begriff „Bifurkation“ an. Er stammt aus dem Forschungsbereich der „Chaostheorie“, sprich der fraktalen Geometrie der Natur. Wunderbar nachzulesen bei Briggs/Peat: Die Entdeckung des Chaos, dtv. Alice im Wunderland – Blicken wir hinter die Spiegel. Diesen Blick versucht auch Hustvedt, wenn sie unterstellt, dass Erinnern unserer Erinnerung diese zugleich abwandelt. Das zu beobachtende System ändert sich unter der Beobachtung (wie seinerzeit Schrödinger mit seinem Katzen-Paradox gezeigt hat). So stellt sie die luzide Frage, woran abzulesen wäre, dass die Dreiundzwanzigjährige, die 1978 vom Land ins turbulente New York wechselt, mit sich selbst identisch ist? Gibt es einen verlässlichen, archimedischen Punkt unserer selbst, der auch unter den uns verändernden Wechselfällen des Lebens unhintergehbar wir selbst bleibt? „Damals“ versucht sich auf diesem Weg. Während die Neurowissenschaften dazu tendieren, unser Gehirn zum Subjekt zu erklären, wo es doch „nur“ ein Organ unter anderen ist, bringt uns diese Überhöhung bei der Frage nach unserem zeitlichen Selbst im Verhältnis zum autobiografischen Gedächtnis nicht weiter. Da ist etwa die Plazenta, die einen ersten weltbezogenen und doch weltgeschützten Resonanzraum für uns schafft, noch jenseits des „Ich“, eines Willens oder anderer Bezugselemente, außer der mütterlichen Verbindung, die ein Alles darstellt für den Embryo. Und diese Konstellation ist eine Ur-Perspektive, aus der wir Ur-Erfahrung schöpfen, ohne sie als solche reflektieren zu können. Und doch wirkt sie in uns – fort.

So entwickelt sich „Damals“ als autofiktionale Selbstentdeckung auf der Suche nach ihrem „Kernselbst“. Eine Fahrt mit biowissenschaftlichen Mitteln, die sie sich selbst erarbeitet hat. Der daraus erwachsene interdisziplinäre Kosmos ist so vielschichtig, dass sie längst für neurologische Vorträge angefragt wird. Der Roman spielt über die Spanne von August 1978 bis September 1979. Er thematisiert neben der weiblichen Eigenwelt einer reiferen Frau, die auf ihr jugendliches Ich zurückblickt, jenen Erinnerungskontext, der das Buch gattungsbezogen vom Roman zum Erinnerungsbuch wechseln lässt. Technisch wird dieser heikle Wechsel auch damit nicht geheilt, dass die Rahmenhandlung darauf abzielt, über die Figur der Nachbarin Lucy, die mit ihrem chaotischen Sing-Sang einen Plot von Misshandlung über Gefangenschaft und Mord treibt. Der notwendige Spannungsbogen entfaltet sich zu flach. Anders gelesen, ergibt die Verschachtelung von drei Geschichten einen anderen, ganz eigenen Sinn: Welche Spuren hinterlassen Ereignisse in unserem Leben, die später zu unseren Erinnerungen werden und welche (der kantischen) Grundfragen an den Menschen können wir wie beantworten? Das ist eine andere, ganz eigene Detektivgeschichte.

 

Von der Kunst, eine Frau zu übersehen

Der Essayband „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“ beschäftigt sich mit Themen über Kunst und Geist – so der Titel – wie auch wiederholt mit der Geschlechterrolle, die immer noch und in allen Teilen der Gesellschaft mit eindeutigen Benachteiligungen für die Frauen verbunden ist. Niemand wundert das noch. Hier wird allerdings auf ebenso geistvolle wie persönliche Weise eine weitere (die wievielte?) Bresche zugunsten eines ausgewogenen Geschlechterverhältnisses geschlagen.

Aus dem Bereich der Wissenschaft etwa sind die Leidensgeschichten der Frauen, die im Schatten „großer“ Männer standen, die systematisch unterdrückt oder kaltgestellt wurden, bekannt. Beispiele sind: Ada Lovelace (Mitbegründerin moderner Computerwissenschaft), Rosalind Franklin (Entdeckerin der DNA) oder Lise Meitner (legte die theoretischen Grundlagen  der Kernspaltung). Hustvedt bringt Namen aus der Kunstwelt: Louise Bourgeois oder Joan Mitchell oder Elaine de Kooning. Letztere malte in den fünfziger Jahren Männer als Sexobjekte, um gegen den Sexismus der Branche aufzustehen. Protest und Aufruhr über Tabubruch sozusagen. Denn wie in allen anderen Bereichen gesellschaftlichen Lebens war Sexismus ein ungeschriebenes Gesetz, dem sich jeder bedienen konnte ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Wenn wir daran denken, dass in unserer Zeit erst über die #Metoo-Debatten erste Brüche zu einem kritischen Blick auf Sexismus geführt haben, wissen wir umso mehr den Beitrag der frühen Vorkämpferinnen zu schätzen.

Hustvedt zeigt anhand diverser Darstellungsformen von Frauen in der Kunst die unterschiedliche Wertschätzung: etwa Picassos Weinende Frau. Einfühlsam und mit unbestechlichem Blick beschreibt die Autorin ihre Begegnung mit dem Bild: „Ich betrachte Picassos Weinende Frau, und ehe ich Zeit finde, über Farbe und Form oder über Gestik und Stil zu sprechen, habe ich Gesicht, Hand und einen Teil des Torsos auf der Leinwand registriert und reagiere unmittelbar emotional auf das Gemälde. Das Bild bringt mich aus der Fassung. Ich spüre eine Spannung in meinen Mundwinkeln. Ich will diese Figur weiter ansehen, aber ich fühle mich auch von ihr abgestoßen. Obwohl ich eine Weinende betrachte, finde ich die Darstellung grausam. Was geht hier vor?“ Erneut werden wir mit dem Thema „Körperlichkeit“ befasst. Siri Hustvedt bringt diese Eindrücke in Verbindung mit der Spiegeltheorie, der zufolge wir im Bild des Gegenübers die eigenen Züge erkennen: „Das Gesicht, das wir wahrnehmen, tritt an die Stelle unseres eigenen.“ Merleau-Ponty zitiert sie mit dem Begriff der Interkorporealität, die unserer Wahrnehmung unmittelbar beigegeben ist, also nicht über kritische Reflexion erlernt werden muss. So erkennt die Autorin im Gemälde Picassos Farben, die in unserer Kulturtradition codiert für Leid stehen. In Verbindung mit den Gesten der Figur evoziert das bei ihr den Eindruck eines Wasserfalls von Tränen. Dennoch kommt die innere Solidarität an eine Grenze, zeigt das Bild doch auch die möglichen Abgründe, die im tiefen Inneren lauern: die ausgestreckte Hand mit Nägeln, Messern oder Krallen gleich. Gefahr scheint zu lauern, die von Lächerlichkeit schwach übertüncht, die nach hinten zeigenden Ohren andeuten.

In „Wie wichtig ist Philosophie in Sachen Gehirn?“ begegnen wir der Autorin als Suchender und verstehender Schriftstellerin im Dickicht von Molekulargenetik, Epigenetik und Neurowissenschaften: „Das denkende, sprechende Ego, das ich gern den inneren Erzähler nenne, scheint unabhängig von dem in Mitleidenschaft gezogenen Körper zu existieren und wird zu einem schwebenden Kommentator, der zuschaut, wie das Leiden den elenden sterblichen Körper angreift. Die subjektive Erfahrung beinhaltet häufig ein Selbst, das Krankheiten beobachtet, obwohl die bloße Idee des Selbst ein philosophisches und wissenschaftliches Rätsel bleibt.“ Neurologische Forschung wie die von Robert Sapolsky zeigen die vielfache Verschränkung neurobiologischer Netze, an denen neben unserem Gehirn auch die hormonellen und emotionalen Prozesse beteiligt sind. Denken und Fühlen beeinflussen einander und damit auch die Veränderungen im Gehirn. In ihrem Roman „Die zitternde Frau“ (2009) geht Hustvedt diesen Zusammenhängen am eigenen Beispiel nach und zeigt mit großer Anschaulichkeit, welchen Prozessen ein Mensch unterliegt, der Symptome einer nicht diagnostizierbaren Krankheit zeigt, wie schnell dieser einem Stigma anheimfällt. Der gesellschaftliche Umgang mit psychischen Erkrankungen stellt auch im 21. Jahrhundert noch eine Herausforderung dar. Schließlich können wir alle in Situationen emotionaler Schocks oder traumatischer Ereignisse geraten, die dauerhafte physiologische Veränderungen mit sich bringen können. Obgleich viele Mechanismen bekannt sind, erstaunt doch, dass etwa bei Konversionsstörungen die traumatischen Stressfaktoren in ihren Auswirkungen noch wenig erforscht sind. Besonders leiden Patientinnen darunter, weil Frauen aufgrund des Rollbildes schneller als untauglich beschrieben werden. Dieser Sexismus ist auch heute noch üblich.

Auch das ist eine Wahrheit: Wissenschaft kann nur Bruchstücke aus der sich ständig wandelnden Natur begreifen, sichern und „beweisen“. Hustvedt: „Objektivität in der Wissenschaft ist kein Absolutum (…), sondern durch Konsens bestimmt (…).“ Das hat sich seit der Falsifikationstheorie durch Popper nicht geändert. Man ist versucht, hinzufügen: gottlob!

Fazit: Hinterlässt der Roman einen zweigespaltenen Eindruck, so hebt der Essayband diesen eindeutig wieder auf. Klare Sichtweisen auf Phänomene von Natur und Gesellschaft, angereichert mit persönlichen Erfahrungen und in eine angenehm verständliche Sprache gegossen, die bei jedem Thema Freude am Lesen aufkommen lässt.

 

Ingo-Maria Langen, Oktober 2020