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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Angela Merkel

Ralph Bollmann
Angela Merkel
Die Kanzlerin und ihre Zeit

Biografie

C.H.Beck Verlag, München 2021
800 Seiten, 29,95.- €

Ralph Bollmann, Historiker, Journalist, wirtschafspolitischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Verschiedene Buchveröffentlichungen. 2013 – Die Deutsche: Angela Merkel und wir. (Übers. ins Jap. / Chin.).

Feature

Geschichte entwirft sich aus dem Augenblick heraus, geschrieben wird sie nachträglich. Die im September bevorstehende Bundestagswahl wird in ihrem Nachgang für die Zusammensetzung des Bundestages ohne Angela Merkel auskommen müssen. Ein zeithistorischer Schnitt, der für die kleine bundesdeutsche wie für die große weltpolitische Bühne eine Zäsur markiert. Die Karawane zieht weiter. Die Ungewissheiten nehmen zu. Die Unsicherheiten ebenso. Da mag so manchem im Blick zurück die Kanzlerinnenzeit wehmütig als behütete Zeit der Stabilität vorkommen. Das ist verständlich und doch nur bedingt richtig. Mit der Kanzlerschaft Merkels hat Deutschland die Schwelle zur aktiven Weltpolitik überschritten, ist gereifter, gefragter und geachteter Partner in internationalen Beziehungen geworden. Ein relativ kleines Land im geografischen Maßstab, im Maßstab für die Werte der westlichen, liberalen Demokratien ein Anker gegenüber (östlichen) illiberalen Demokratien, im Ansehen hochgeschätzt. Merkel hat damit in der Fortführung von „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ (W. Brandt) Deutschland vom passiven Zuhörer zum aktiven Orchestermitglied geformt. In der Folge der Krisen der westlichen Welt sah man in ihr schon die Gralshüterin der Wertegemeinschaft, so die New York Times oder die Fachzeitschrift Foreign Policy nach der Wahl Trumps. – Angetreten war sie allerdings mit dem Anspruch auf Veränderung.

Entdeckerfreude und ein eigener Kopf

Wie entwirft man einen Lebensplan für sich? Das gelingt nicht jedem. Angela Merkel entscheidet sich, Freiräume auszuloten, Chancen realistisch einzuschätzen und dann ihrer Entdeckerfreude freien Lauf zu lassen, trotz aller Beschränkungen und möglicher Gefahren. Ihr Elternhaus bietet eine solide bildungsbürgerliche Basis, wenngleich der nonkonformistische Vater, evangelischer Pfarrer, die Mutter Lehrerin, sie immer wieder mahnen, sich mehr anzustrengen, beide sie ermutigen eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Fortune würde sie dabei nicht haben, der kirchliche Hintergrund verhinderte das. Gleichwohl schien eine Ausbildung mit anschließender Promotion an einem Akademieinstitut möglich. Naturwissenschaften anstelle von Sozialwissenschaften die notwendig richtige Wahl.

Politisch frei bleiben

Das Studium in Leipzig ermöglicht Merkel ihre kulturellen Interessen zu vertiefen und ihren beruflichen Weg am Leipziger Zentralinstitut für Isotopen- und Strahlenforschung an der Akademie der Wissenschaften vorzubereiten. Hier treffen sich nonkonforme Kreise, die Wissenschaft ohne politische Bevormundung treiben wollen (und in gewisser Weise auch können). Das ist auch die Motivwurzel Merkels. Immer wieder kommt sie in Berührung mit der allgegenwärtigen Stasi, versteht es allerdings gut diese ins Leere laufen zu lassen. Die Begrenzung beruflicher Aussichten ermöglicht zugleich Freiräume, die sie schon zu Schulzeiten abgezirkelt hatte: Camping, Trampen und weite Touren in die östlichen Nachbarstaaten. Jetzt kommen ausgedehnte Reisen in größerer Entfernung hinzu, Russland eingeschlossen. Dabei gilt ihr Interesse in erster Linie den Menschen und ihrer Kultur, die Nähe zu ihrem täglichen Leben. Die Kombination aus atmosphärisch-intellektuell herausforderndem Elternhaus und der bescheidenen Welt des „kleinen Mannes“ ermöglicht Merkel eine gesellschaftspolitische Sicht, die kreative Veränderungsbereitschaft mit jenem Augenmaß für das Machbare verbindet, das Grundlage für ein Bindungsverhalten von Wählern bilden würde.

Andenpakt

Bollmann sieht zu Recht in der sowjetischen Intervention in Afghanistan 1979 eine Epochenwende. Der Ideologiekrieg Ost-West würde nun eine terroristische Erweiterung erfahren, die uns bis heute in Atem hält. Davon unbeeindruckt formiert sich mit dem „Andenpakt“ eine Gruppe junger CDU-Politiker, die beschließen, sich gegenseitig in ihren Karriereambitionen zu unterstützen. Diesem Pakt sollte die spätere Bundeskanzlerin zu ihrem Missvergnügen häufiger begegnen. Ebenso würde sie einem weiteren Phänomen begegnen, das sie bis zum Ende ihrer Dienstzeit als Kanzlerin begleitet: Mit großer Hoffnung auf Veränderung verfolgt Merkel die Gründung der Solidarność in Polen 1980. In Westdeutschland dominieren rechtsnationale Kreise im Bundestagswahlkampf mit ihrer Warnung vor „Scheinasylanten“, „Polacken“, „Wirtschaftsflüchtlingen“ die Debatte: die polnische Regierung hatte über eine Million Pässe für Westreisen ausgestellt. Die zwischen „German Angst“ und „German assertivness“ pendenlnde bundesdeutsche Gesellschaft bekommt ihre erste Asyldebatte, der die axiomatische Erkenntis erwächst, Migrationspolitik als Wahlkampftreiber nutzen zu können. Das beruht auf dem spezifischen gesellschftlichen Reflex sich bei (vermeintlicher) Gefahr einzuigeln, abzuschotten. Das Oszillieren der Gesellschaft von linksliberal (offen) zu rechtsnational (geschlossen) würde noch mehrmals zu beobachten sein, letztlich mit fast dramatischen Folgen in der „Flüchtlingskrise“ 2015. Merkels Mantra ist ein anderes: Menschen in Bewegung sind nicht aufzuhalten. Das hat sie 1989 erlebt, das soll sich 2015 bestätigen. Die Ursachen mögen differieren, die (politischen) Folgen sind dieselben. Hier liegt der Kern des Missverständnisses der deutschen Gesellschaft mit Angela Merkel: Dominiert weite Teile der Gesellschat jene „German Angst“, fokussiert die Kanzlerin nicht die Gefahr, sondern die Chance auf Veränderung. Eben jene Hoffnung, mit der sie aufgewachsen ist.

„Es ist ein Mädchen“ – so der Titel der „taz“ zur Wahl

Merkels Wahl zur ersten Bundeskanzlerin der Bundesrepublik 2005 ist ein steiniger und gefahrvoller Weg vorausgegangen. Mehrmals stand ihre Karriere vor einem möglichen Aus. Gleichwohl versteht sie mit Beharrlichkeit, Fleiß, strategischem Können und dem notwendigen Augenmaß jene Klippen zu umschiffen, die gerade innerparteiliche Gegner für „Kohls Mädchen“ bereithalten. Selbst den Spendenskandal um um den Altkanzler nutzt sie geschickt, um sich von ihm abzusetzen. Sie wird in ihrer langen Regierungszeit von persönlichen Skandalen frei bleiben. Eine Seltenheit, so muss man inzwischen lakonisch konstatieren. Zum Überschwang, der bei ihrer ersten Wahl im Bundestag aufkam, schreibt Friederike Haupt in der F.A.Z. (Frau Merkel, 04.08.21): „Lammert rief heiter, er habe den ‘begründeteten Eindruck’, dass Merkel die Wahl annehme, und die versicherte: ja. Wieder Applaus. In den Trubel hinein sprach Lammert ins Mikrofon: ‘Liebe Frau Doktor Merkel, Sie sind damit die erste demokratische Regierungschefin in Deutschland. Das ist ein starkes Signal für viele Frauen und für manche Männer sicherlich auch.’“ Gerade Männer werden es sein, die immer wieder versuchen, Merkel zu demontieren. Das erinnerlichste Beispiel zum Ende ihrer Regierunszeit ist Horst Seehofer, der, mit landespolitischen Problemen und den Querelen um seinen Nachfolger ringend, die Bundeskanzlerin als Blitzableiter missbrauchte, sie öffentlich abkanzelte, um letztlich in der Sache dennoch nicht zu reüssieren. Ähnliches musste Merkel über den Andenpakt der Jungen Wilden erfahren, dessen Mitglieder Koch oder Oettinger die Kanzlerin oft in böswilliger Weise angingen, sich letztlich doch nicht durchsetzen konnten und aus politischen Ämtern ausschieden (Koch) oder in die EU wechselten (Oettinger). Alleine diese Grabenkämpfe würden wahrscheinlich noch ein weiteres Buch füllen und aufzeigen mit welcher Umsicht, Geduld, Noblesse, aber auch politischem Kalkül und robustem Durchsetzungsvermögen Angela Merkel ihre politischen Widersacher kaltstellte.

Die Welt im Krisenmodus

Finanzkrise, Eurokrise (Griechenland, Italien, Spanien, Irland), Ukrainekrise, Flüchtlingskrise. Bollmann schildert die Mechanismen, die Zusammenhänge, die Interessenlagen (etwa Russlands), ebenso wie die kaltblütige Rücksichtslosigkeit der Trumpisten, die in ihrer Nachwirkung weit über Merkels Amtszeit hinausreichen wird. Ihr Mangement dieser geballten Krisen nötigt dem Leser Zeile um Zeile Respekt und Demut ab, an diesen Herausforderungen wären männliche Regierungschefs wohl vielfach gescheitert. Doch diese kleine, enorm belastbare Frau mit ihrem visionären Ansatz zu verändern, sie musste letztlich das Erreichte bewahren, sowohl innenpoliisch, weil der durchschnittliche Staatsbürger ihren Ansatz nicht verstand und gleich einem quengelnden Kind nach Beruhigung im Bewährten verlangte, während im globalen Maßtab mal eben die Welt zu retten war. Gleich ob es einen Krieg zu verhindern galt (Ukraine), der internationalen Gemeinschaft im Kampf gegen den Terror beizustehen oder ihn auch im eigenen Land schmerzhaft erleben zu müssen. Weitere Krisen blieben nicht aus: Finanz-, Euro-, Brexitkrise. Auch davon war die Weltpolitik betroffen. Würde Europa auseinanderfallen, zum Spielball der mächtigen Interessen der Supermächte werden? In Kleinstaaterei versinken? Merkel stemmte sich mit aller Macht dagegen, hielt das Haus beisammen. Immer im Blick: die extremistischen Bestrebungen der Neuen Rechten in vielen Mitgliedsländern der EU wie der Welt. So entgegnete sie jenem Theaterpräsidenten namens Trump anlässlich der Eröffnung des Museums Barberini am Alten Markt in Berlin: „Das Museum Barberini steht für gelebte Werte, für Verantwortung, für Großherzigkeit, für Weltoffenheit und vieles mehr.“ Eine offene Gesellschft muss immer mit Saboteuren oder Feinden rechnen, ihre Werte darf sie aber nie verleugnen. Angela Merkel versteht das wie kaum ein Regierungschef vor ihr. So beendet sie ihre außergewöhnliche Karriere mitten in einer Pandemie ebenso standhaft wie sie in allen anderen Krisen zuvor Haltung zeigte. Wir sind ihr zu großem Dank verpflichtet. Das Buch leistet dazu einen nicht zu überschätzenden Beitrag über den Tag hinaus: als Erinnerungsträger, als persönlicher Maßstab für Ethik und Moral, als Mahnung zu mehr Veränderungsbereitschaft.

Fazit: Eine quellengesättigte Studie mit großer Detailfülle, nah dran an der Kanzlerin und ihrem personalen Umfeld. Bestechend das Entwicklungspotenzial der ersten Kanzlerin Deutschlands: Mit zurückhaltendem Impetus, aber der unbedingten Bereitschaft zur Veränderung der deutschen Gesellschaft erwuchs ihr die Rolle der Gralshüterin der westlichen Welt, hatte sie sich doch gerade im Ringen mit autokratischen Systemen konstant als geschickte und zielorientierte Managerin der freien Welt präsentiert. Soweit Politik die Kunst des Möglichen ist, darf Angela Merkel für sich verbuchen Krisen mit weltpolitischer Brisanz (Ukraine-Konflikt) entschärft und international politisch handhabbar gehalten zu haben. Vergleichbares gilt im Umgang mit illiberalen Staaten innerhalb der EU. Die großen Modernisierungsschritte der bundesdeutschen Gesellschaft sind ihr dagegen versagt geblieben. Hier hätte der Leser sich mehr Innenschau – bei aller Zurückhaltung Merkels dazu – gewünscht: Welche inneren Überzeugungssätze treiben sie an? Welche Anker hat sie? Gibt es innere Spielmomente, die eine späte Sozialisation angesichts der Herausforderungen als Entscheidungstreiber darstellen? Insgesamt ein gelungenes Panorama politischer Geschichte der „Chancellor of the Free World“ (Time-Magazine 2015).

Ingo-Maria Langen, August 2021