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Via Conci
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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Als ich einmal in den Canal Grande fiel

Petra Reski
Als ich einmal in den Canal Grande fiel
Vom Leben in Venedig

Droemer Verlag, München 2021
269 Seiten, geb., 18.- €

Petra Reski, Journalistin (F.A.Z., Magazine u.a.), Schriftstellerin (Serena Vitale, Hoffmann und Campe Verlag), Sachbuchautorin mit Schwerpunkten u.a. zur Mafia (Mafia. 100 Seiten, Reclam 2018) und Venedig. Dort lebt sie seit 30 Jahren und engagiert sich für den Erhalt der Stadt. Mehrfach ausgezeichnet für ihre journalistischen Arbeiten.

Feature

Der Tod und Venedig

Die Serenissima – ein gehauchter Traum vom Paradies, gemalt als nuvole bianche an den Himmel über der Stadt. Man könnte diese weißen Wolken durchaus mit Ludovico Einaudis Klaviermusik unterlegen, unser Herz segelte Venedig entgegen, zwischen Melancholie und Seligkeit gefangen. Venedigs Sterben ist real und allgegenwärtig, weshalb wir auch aus diesen Wolken ganz unsanft auf den Boden fallen und möglicherweise im Dreck landen. In Dostojewskis „Idiot“ sagt Myschkin, Schönheit rette die Welt. Denn Schönheit hat Macht. Die Macht Menschen zu verändern. Sie zu besseren Menschen zu machen, Städte zu besseren Städten, Bürger zu besseren Bürgern. Über welche Schönheit reden wir? Im Griechischen fallen schön und gut in eins: kalokagathòs. A beautiful mind ist ein Mensch (neben einem vielleicht ansprechenden Äußeren) mit einer guten Seele. Denn Schönheit im Sinne von „gut sein“ wird aus der Seele geboren: die moralische Wertgebundenheit. Fehlt diese, läuft Politik Gefahr sich gegen die zu wenden, für die sie die Kunst des Möglichen umsetzen soll. Korruption, Mafia, Desinformation, aber auch Gleichgültigkeit vieler Bürger ermöglichen die Bedienung fragwürdiger unternehmerischer bis krimineller Interessen. Paradigmatisch für diese Entwicklung stehen in Bezug auf Venedig besonders zwei Namen: der Alt-Bürgermeister Massimo Cacciari und sein derzeitiger Nachfolger Luigi Brugnaro.

 

Un Campagnolo

Ein Landei, so bezeichnen die Venezianer jenen Brugnaro, der vom Festland aus seine Wahlen bestreitet (denn die Stimmen von Mestre, Marghera, Favaro … sind entscheidend), keinen Wohnsitz in der Stadt hat und sie zudem oft aus der Ferne regiert. Doch das wäre noch zu verschmerzen, wäre da nicht der Ausverkauf der Palazzi, das Abräumen jener Wohnungsbesitzer, die über Airbnb ihre Residenzen Touristen überlassen, die Preise in die Höhe treiben, angestammte Venezianer aus der Lagune drängen, Venedig immer mehr zum Paradies für den Massentourismus abwirtschaften, selbst allerdings prächtig daran verdienen. Palazzi werden an internationale Mode-Labels vermietet oder Milliardären für ihre Kunstsammlungen verpachtet. Venedig, eine Hedge-City! Wer kann und will, der kauft sich einfach ein, gleich einem Investmentfond. Da wird verkauft, samt Änderung der Baunutzungsverordnung, ziehen Billigmarken ein, Konsumtempel für Ausflügler. Begonnen hat das systematische Ausplündern der Stadt bereits 1994 mit Massimo Cacciari. Sein Privatisierungskonzept war die Blaupause für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in der Stadt. Als Reski ihn in seiner Amtszeit interviewt, kritische Fragen zu seiner Broschüre „Privatizzare Venezia – Der Stadtplaner als Unternehmer“ stellt, blafft er sie mehrfach an, unterstellt, sie habe keinen Sinn für die Notwendigkeiten dieser Stadt, während an den Vorderseiten der Palazzi Werbeplakate hängen, die angeblich die Renovierungskosten für die Fassaden einspielen sollen. Hängt der Werbeträger einmal, passiert dahinter zumeist nichts mehr – verdient wird trotzdem. Man könnte das nun als italienische Schrulle abtun, doch dieser Geschäftssinn stiftet keinen Nutzen, sondern schadet.

MO.S.E. (Modulo sperimentale elettromeccanico)

Im Fall des großen Flutsperrwerks vor den Toren der Lagune wird das nochmals deutlich. Seit rund dreißig Jahren wird hier geplant, gebaut und gut acht Milliarden Euro ausgegeben. Consorzio Venezia Nuova, ein Unternehmerkonsortium, das sich kümmert. Am Ende muss sich Gott um Moses kümmern, damit die Stadt nicht untergeht. Ein Polit-Krimi erster Güte, der nicht zu Ende geschrieben ist. Was passiert, wenn die Scharniere der großen Speerwerke nicht halten? Was passiert, wenn über die Vertiefung für die Schiffe die Fließgeschwindigkeit des Wassers dramatisch zunimmt? Was passiert mit den noch fünftausend Venezianern und ihrer Stadt, wenn der Lagunenboden unter der Last des Betons noch weiter absinkt? Kritische Stimmen wurden mit Klagen überzogen: Journalisten, Bürgerinitiativen, Ingenieure, NGO’s. Möglich, die Resonanzfrequenz der Fluttore wird zum letzten Nagel am Sarg des Projekts. Noch hat es (außer einem Probelauf) nicht den Betrieb aufgenommen, geschweige den Ernstfall zu bestehen gehabt. Achtundsiebzig Tore, die das Ende Venedigs besiegeln könnten. Man mag es sich nicht vorstellen.

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch

Immer mehr Bürger und Organisationen wehren sich, streiten mit der Politik um den richtigen Weg für den Erhalt des UNESCO-Weltkulturerbes von Stadt und Lagune. Die Schäden sind bereits heute beträchtlich. Massentourismus, Kreuzfahrtschiffe, Öltanker, die Liste ist lang. Reski hat all das veranlasst, selbst in die Politik zu gehen und für die Bürgerliste „Terra e Acqua“ für den Stadtrat zu kandidieren. Damit Menschen wie Alberto, der Opernarien schmetternde Fischer, der immer auf San Pietro di Castello wohnte und nun nach Mestre umziehen musste, dem Reski sehr verbunden ist, bleiben können. Damit Wohnraum für Venezianer wieder bezahlbar wird. Damit der Raubbau an Stadt und Lagune endet. Ein Kampf an vielen Fronten.

Stiller Protagonist des Buches ist nicht etwa der alte Conte, dem Reski huldigt und der als venezianisches Urgestein sich bis zu seinem Tod den richtigen Blick auf die Stadt, ihre Bewohner und die Politik bewahrt hat, sondern il marito, der Venezianer an ihrer Seite. Wir begegnen einem ebenso verwurzelten, wie kenntnisreichen Stadtbewohner, der über die Palazzi und ihre Herren gleichfalls orientiert ist wie über die Architektur (Kapitelle und Bogenfenster: ein Palazzo von Mauro Codussi), die Kunstgeschichte, besondere Steine oder exklusives Holz für die Renovierung eines alten Palazzo herbeischaffen lässt, bis hin zu den Terrazzobodenlegern, die kaum noch aufzufinden sind. Damit hat die Vielseitigkeit noch kein Ende. Wir lernen etwas über Restauratoren, die beschmutztes Pergament reinigen, Handschriften, Tagebücher oder den venezianischen Chronisten Marino Sanudo. Reski breitet gleichsam ein venezianisches Bilderbuch aus: Kunst und Kunsthandwerk, Museen und Ausstellungen, Lebensräume der Schaffenskunst des Menschen. Ein Mann, der ein Stück Venedig bewahrt.

Ankommen will verdient sein

Die stolze Stadtgesellschaft macht es einem Neuankömmling nicht leicht. Es gilt zunächst Venezianisch zu lernen: eine eigene Sprache, kein Dialekt. Vergangenheit, Kultur, Zusammengehörigkeit. Ein langer Weg, bis der Zigarettenverkäufer in der Bar Al Teatro sie eines Tages anspricht: „Hast du dich gestritten?“ Nach wieviel Jahren? Eine Anerkennung. Später wird sie eine „topetta“, ein kleines Motorboot, erwerben: „Una fia che guida a manetta!“ ruft man ihr zu – „Ein Mädchen, das mit Steuerhebel fährt.“ In Venedig ist das (noch) Männersache, die Frau zumeist schöne Zugabe. Überhaupt ist das so eine Sache mit dem Boot. Kämpfen wir an Land in unseren überversiegelten Metropolen um Anwohnerparkplätze, gilt in Venedig eine Bootsanlegestelle als höchstes Privileg. Sie zu bekommen ist fast ausgeschlossen, weshalb man sich untereinander hilft und ererbte Lizenzen verkauft oder vermietet, ohne dem „Amt für Belegung des Wasserraums“ dies mitzuteilen, weiß man doch nie wie dessen Beamte darauf reagieren würden. Die lebensnahe, bildhafte Schilderung der Episode vom Bad im Canal Grande zeichnet gleichfalls die Reaktion der Mitmenschen nach, wo die Gerettete vom Gondoliere nach der carta venezia gefragt wird und die pitschnasse Dame des Herzens vom Venizianer an ihrer Seite telefonisch in Kenntnis gesetzt wird, dass die Gondolieri ihn angerufen haben: „Deine Frau ist ins Wasser gefallen. Sollen wir was machen?“ Ein Setting aus dem Leben gegriffen.

Fazit: Petra Reski schreibt über ihre Heimatstadt mit luzidem Humor, Selbstironie und jener augenzwinkernden Lust, die dem Text eine Leichtigkeit verleiht, mit der auch technisch anspruchsvolle Abschnitte Lesegenuss bereiten. Trauer und Tränen liegen oft nahe beieinander, ergreifen den Leser. Ein Manifest für die Kultur dieser „Stadt am Wasser, die aus nichts als flirrender Poesie besteht“. Das lehrt die Gefahren zu bedenken, die von vielen Seiten die Serenissima bedrohen. Geht sie verloren, gehen die Menschen, die für sie kämpfen verloren. Ein unersetzlicher Verlust. Dem Buch sind viele Leser zu wünschen, die national wie international ihre Stimme für diese einzigartige Welt erheben wie Adriano Celentano, um die Selbständigkeit der Stadt wiederherzustellen. Und dafür zu sorgen, dass wir auch noch in hundert Jahren Venezianer in Venedig antreffen.

Ingo-Maria Langen, August 2021