Antoine de Saint Exupéry
Der kleine Prinz
Übertragen von Grete und Josef Leitgeb
Karl Rauch Verlag, Düsseldorf
96 Seiten, 6,90.- €
Ja, sicher: Sie fragen sich jetzt – wieso bespricht er hier ein Buch und nicht unter der passenden Rubrik? Die Antwort ist so einfach wie schwierig zugleich. Vielleicht ist es besser, eine Geschichte dazu zu erzählen?
„Es muss mal wieder renoviert werden – nicht?“ Oh weh, das war das Letzte, das ich hören wollte. Besonders bei meinem Arbeitszimmer. Tausende Bücher, bis unter die Decke, in der Mitte ein dicker Kubus, ebenso bis unter die Decke voll. Aber auch die anderen Räume hatten schon ihre Erfahrungen mit dem wachsenden Bestand gemacht. Keiner ohne Regal. „Aber muss das denn unbedingt jetzt sein?“, so die vorsichtige Nachfrage. „Die Arbeit stapelt sich auf meinem Schreibtisch!“, schob ich etwas kleinlaut nach. Keine Antwort, nur ein Blick, den „Mann“ besonders scheut: Dann mach deinen Sch… doch alleine. Ich muss gestehen, eine klammheimliche Freude nach dem ersten (kleinen) Schock empfunden zu haben. Schlich mich ins Arbeitszimmer, die Tür leise geschlossen und gab mich wieder der lustvollen Leidenschaft hin, die Bücher zu studieren. Mein Blick blieb am „Kleinen Prinzen“ hängen, der etwas schief aus einer Bücherreihe in den Raum ragte.
Vielen von uns ist der „Kleine Prinz“ vertraut: durch das Vorlesen als Kind, seine Lektüre in der späten Jugend oder aus unzähligen Umarbeitungen. Doch was bietet er im Spiegel der späten eigenen Jahre? Können die zeithistorischen Umstände der Erstveröffentlichung am 6. April 1943 beim US-Verlag Reynal & Hitchkock noch im Hier und Heute relevant sein? Oder speist sich die Relevanz des kleinen Buchs aus einer überzeitlichen Perspektive, einem Deutungshorizont des menschlichen Lebens, das von grundsätzlichem Gehalt für jede Generation ist? Dem wollen wir hier etwas nachgehen. Selbstverständlich soll es dabei auch um mögliche Bezüge zum Christentum und zur Bibel gehen. (Den Inhalt darf ich als bekannt voraussetzen – er wäre auch leicht nachzulesen).
Die furiose Erfolgsgeschichte des „Kleinen Prinzen“ wird immer noch fortgeschrieben. Zuletzt hat Enzo Romeo mit „L’invisibile belezza. Antoine de Saint-Exupéry creatore di Dio“ den Versuch einer erweiterten Deutung der christlichen Bezüge im „Kleinen Prinzen“ vorgelegt. Kann man bei diesem Buch davon sprechen, dass dem Leser ein abweichendes Weltbild, ein anderer geistiger Kosmos entworfen wird, den er eigentlich schon kennt, dem er auf diese Weise aber selten begegnet, gerade auch bei sich selbst? Die Feinheiten dafür erschließen sich oft erst nach mehrmaligem Lesen – was die Lektüre durchaus noch attraktiver macht.
Die Sprache! Ja, diese Sprache! Ich muss gestehen, die Lektüre nach längerer Zeit hat mich zuerst irritiert, dann aber gefesselt, denn mit ihrer Einfachheit, ihrer Klarheit, besticht sie in einer täglichen Umgebung, die von Wortungetümen („Neologismen“), Satzkaskaden oder grundsätzlichen Unverständlichkeiten geprägt ist. Die hohe Schule der Literatur besteht auch darin, komplexe Inhalte in schlichter Sprache ausdrücken zu können. Um nicht missverstanden zu werden: Das ist kein Plädoyer für Plattitüden, sprachliche Unsäglichkeiten. Probieren Sie es selbst einmal aus. Versuchen Sie einen sprachlich anspruchsvollen Text in eine einfache Form zu bringen, so dass er noch alles beinhaltet, noch klingt, dem Ohr schmeichelt, seinen Rhythmus behält.
Damit sind wir in der Welt der „Erwachsenen“ angekommen: Die erkennen nur, was sie erkennen wollen (können?). Der namenlose Erzähler zeigt seine ersten zeichnerischen Entwürfe vor und das Publikum erklärt ihm alsbald, besser sein Talent auf Mathematik, Geografie und anderes zu legen. In ihrer „Welt“ haben die Kinderzeichnungen eines Sechsjährigen keine Bedeutung. Das ist sicher nicht so weit von unserem eigenen Lebensalltag entfernt. Für Kindergeburtstage oder die Schulfeier, ja, wunderbar. Als Erkenntnisquelle? Eher mal nicht. Da wird es schnell nervig. Und das ist unser Kardinalfehler: Wir ignorieren, werten oder drängen ab, was uns zu viel Mühe macht. Aber Kinder haben ein oftmals besseres Gespür für die Welt. Das ist uns schon lange abhandengekommen. Wechseln wir dann doch mal in die Perspektive der Kinder, lernen wir das Staunen wieder. Und wir wundern uns, denn das ist die erste Grundlage aller Philosophie! Zu staunen über unsere Welt. Sich an ihrer Vielfalt und ihrem Reichtum zu erfreuen. Ganz einfach. Greta Thunberg verkörpert diese Sicht nicht nur paradigmatisch, sie wechselt für uns Erwachsene zusätzlich noch in die Metaebene. Sie hält uns nicht nur der Spiegel vor unser Gesicht, sondern stellt die Frage: Was tust du für die Welt und ihre Zukunft? Hier fallen also deskriptiv-analytischer Ansatz und mangelnde Handlungsbereitschaft zusammen. Wenn wir doch wenigstens zugäben: Ja, wir haben dieses Chaos angerichtet, aber wir wissen nicht, wie wir es beseitigen können. Stattdessen belehren manche von uns die Kinder, Klimapolitik doch bitteschön den „Profis“ zu überlassen. Zynismus pur.
Der Erzähler reagiert auf die Vorhaltungen zu seinen Zeichnungen mit dem Abbruch seiner vielversprechenden Karriere als Maler und passt sich den Vorgaben der großen Leute an. Was für eine Verschwendung! Und dann trifft er auf den „Kleinen Prinzen“, der ihm von seiner großen Reise durch die Milchstraße und den Erlebnissen auf den sieben Planeten dort berichtet: Menschen, die ihr eigenes Leben verschwenden, indem sie Vorstellungen oder Tätigkeiten anhängen, die am Sinn des Lebens völlig vorbeigehen. „Kinder müssen mit großen Leuten viel Nachsicht haben.“ Das ist die Umkehrung unserer potentiellen Pädagogik. Welche Erziehungsleistung können wir vorweisen, wenn wir zum ersten Mal Eltern werden? Zumeist keine! Und doch müssen wir ran. Aber statt auf das Kind einzugehen, es zu „hören“, es zu „sehen“, schwanken wir zwischen Überversorgung und Vernachlässigung. Oder warum glauben Sie, dass inzwischen etwa 7% eines jeden (!) Jahrgangs (https://www.caritas.de/bildungschancen) keinen Hauptschulabschluss mehr schafft? Was machen wir mit diesen jungen Menschen? Hartz IV? Na, Prost Mahlzeit. Sie verstehen, was ich meine. Wechseln wir schon beizeiten in die Kinderperspektive, weil auch wir uns etwas davon bewahrt haben, nehmen wir das Leben ganz anders wahr. Folglich handeln wir auf der „Erwachsenenebene“ anders. Der sogenannte „Greta-Effekt“ zeigt das endlich auch Millionen von Menschen. Nur wenn wir aus diesem Perspektivwechsel eine Strategie entwickeln, machen wir es richtig. Was braucht der kleine Mensch da gerade? Was freut, tröstet, wärmt ihn? Was kühlt die Erde, wo müssen wir uns einschränken, verzichten, zurücknehmen? Der Genuss des Lebens hängt nicht am Konsum, auch wenn man uns das unablässig einhämmert!
„Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse“, lesen wir im „Kleinen Prinzen“. Das stimmt nur dann, wenn wir uns nicht auf den Perspektivwechsel einlassen. Dann reden wir genüsslich aneinander vorbei, mauern uns konstruktivistisch ein und beharren auf „unserer“ Wahrheit. Zu unseren Missverständnissen mit uns selbst hat Friedemann Schulz von Thun (Miteinander reden 1- 3) gezeigt, woran wir kranken. Kurz gesagt: Zuhören heißt Mithören, im Inneren spiegeln und die vier Seiten einer Nachricht berücksichtigen. Die Sachebene, die Beziehungsebene, die Selbstaussage und die Appellseite. Leider wird es noch komplizierter (und das in einer Zeit, wo viele nach einfachen Botschaften rufen), weil ja auch der Bauch mitentscheidet. „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Das bedeutet für uns: Wir müssen die inneren „Teufel“ an die kurze Leine legen, dürfen ihnen nicht immer die Zügel schießen lassen. Nur dann kommen wir zu einer klaren Präferenz im Bauch, können Bauch und Kopf gemeinsam zu einer Entscheidung bringen. Zugegeben, das ist schwieriger als hier geschrieben, aber die „innere Stimme“, die in meinem „Inneren Team“ (Schulz von Thun) den Ton angibt, muss klar und eindeutig sein. Nur dann gelingen mir schwierige Entscheidungen. Bei Kindern ist das ganz anders: Die horchen nur auf ihren Bauch, was aber den Nachteil hat, den eigenen Affekten zu verfallen. Aber, es gibt eben „Rettung“, die müssen wir uns nur hart erarbeiten. Immer wieder. Das ist gemeint mit der Glas-Metapher: sich von Zeit zu Zeit „entleeren“, denn in ein volles Glas können keine neuen Erkenntnisse gefüllt werden, es quillt ggf. über vor Meinungen, Hören-Sagen, Vorurteilen, Halbwissen… Bauch und Kopf sind ein Team, keiner ist unfehlbar, aber zusammen können sie ziemlich gut sein.
Vom Hören und Sehen nun zum Handeln. Wer ist die Hauptfigur im „Kleinen Prinzen“? Nicht der Erzähler oder der Prinz, es ist der Fuchs! Er spricht vom Herzen als dem besseren Organ, tritt auf als „deus absconditus“ (Luther). Der Verborgene kennt Geheimnisse, die uns erfüllen könnten, wenn wir bereit sind (Glas-Metapher). So spricht der Fuchs über Gott als Theologe (theos logos), ohne ihn zu nennen, handelt die großen Themen des Menschen ab: Liebe, Vertrauen, Zweifel, Tod, Auferstehung. „Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich.“ Für was sind wir verantwortlich? Für unsere Erde, die nachfolgenden Generationen, für einander, vor Gott? Die Augen sehen nur den Umriss, sie ergründen die Tiefe nicht. Reklame statt Wahrheit. Gefordert ist von uns: bringe dich ein! Beteilige dich mit deinem Herzen. Wir kennen den Satz vom Herzblut. Der ganze Mensch: alles Innere, die Emotionen, die Empathie, der Zweifel, das Misstrauen, das Bedürftig-Sein, oder das aus der Fülle schöpfen, dem anderen alles schenken, sich selbst herschenken, das Herz verschenken. Mal in tiefer Liebe, mal mit einem Lachen, einem Lächeln im Vorübergehen. Achtsamkeit, gelebt. Darauf kommt es an. Nicht die eine große Geste, die eine Spende, sondern das Teilen an jedem Tag. Das Wort teilen, das Gefühl teilen, Anteil nehmen am anderen, an seiner Bedürftigkeit. Petrus spricht: „Du bist der Christus.“ Und Christus verbot ihnen, anderen davon zu berichten. (MK 8, 29) Darum dreht sich das Geheimnis: Wer ist der Messias? Und so begegnet es uns in der Messe: Geheimnis des Glaubens! Und wir glauben deshalb, weil wir wissen, dass Gott in unsere Herzen schaut, die manchmal hell strahlen wie Sterne am Himmel des kleinen Prinzen, doch oft genug dunkel und steinern sind wie Verliese eines inhumanen Menschen nur sein können. Wie der Geschäftsmann auf dem vierten Planeten, der rechnet und rechnet, um nur ja seine Schätze anzuhäufen. Es geht ihm um den Besitz der Sterne, die er so emsig zählt. Da er diese aber nicht wirklich besitzen kann, erfreut er sich lediglich daran, sie zu zählen. Reichtum und Besitz, man denke an das Gleichnis vom Nadelöhr. Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen (Mt.18, 2). Darum sammelt lieber für eure Schätze im Himmel, denn wo euer Schatz ist, da ist euer Herz. (Mt.6, 21). Das findet sich eben weder im Konsum noch als Raffzahn. Und das letzte Hemd, Sie kennen das, hat keine Taschen.
„Ich kann diesen Leib nicht mitnehmen. Er ist zu schwer. (…) Es wird aussehen, als wäre ich tot, und das wird nicht wahr sein“, sagt der „Kleine Prinz“ am Ende seiner Reise. Die Hoffnung auf ein Augehobensein im Himmel, eine Wiedergeburt des Herzens.
Doch noch bin ich eher aufgehoben im Ungefähren: „Schatz: Ich war im Baumarkt, die Farbe steht unten und die nächsten Tage habe ich frei. Was sagst du?“
Herzlich, Ihr
Ingo-Maria Langen, September 2019