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Leipziger-Buchmesse-2019 (3)

Demokratie & Heimat

Die Karibik hat so mancher dieser Tage vor Augen, nicht nur angesichts des Herbstwetters, denn leider kommen wir weder in den Genuss eines Indian Summer noch eines goldenen Herbstes. Womit wir auch schon bei den hiesigen politischen Konstellationen angekommen wären. Die gute alte Tante SPD ist raus, die AfD ist drin. Und Jamaika nun dran. Wer hat denn da verloren, wer gewonnen? – Ein paar Gedankensplitter dazu.

Die genauen Analysen sind längt gelaufen, die Wählerwanderungen bekannt. Grob gesagt: die AfD hat von den großen Parteien massiv Wählerstimmen abgezogen, Grüne und Linke konnten sich knapp halten, die FDP ist der strahlende Sieger, dank Herrn Lindner. Das muss man gebührend anerkennen und auch so offen sagen. Sie finden, das klingt lauwarm nach Allgemeinplatz? Schließlich ist die FDP demokratisches Urgestein der Republik. Ja, das ist richtig und gut so. Ich möchte allerdings auf etwas ganz anderes hinaus. Deshalb lege ich Ihnen hier eine gewagte These vor: es ist gut, dass die AfD es in den Bundestag geschafft hat. Es ist auch gut, dass sie in beträchtlicher Fraktionsstärke antreten kann. – Die Begründung hierzu wird Sie vielleicht erstaunen.

Vielen Dank, dass Sie noch weiterlesen und mir vertrauen, dass ich wirklich etwas zu sagen habe, etwas, das Sie nicht leicht an anderer Stelle finden können. Also zunächst zur Begründung, die ich Ihnen noch schuldig bin. Als Systemiker bereitet es mir ab und an diebische Freude Perspektiven und Sichtweisen auf den Kopf zu stellen, scheinbar provokant zu wirken und es bei näherem Hinsehen doch nicht zu sein. So kann sich aus dem Beginn eines erbitterten Dialogs noch ein heiteres Lachen des Gelöstseins ergeben. Hier nun die Begründung: aus systemischer Sicht wird etwas hinzugenommen, das bislang nur als ausgeschlossen gedacht werden sollte. Jetzt kann sich dieses Ausgegrenzte artikulieren (ja, Sie haben recht: das wird uns noch oft missfallen), der Ton wird rauer und weniger damenhaft werden, aber erinnern wir uns kurz an die Zeit eines der größten Rednertalente und zugleich eines der umstrittensten Politiker seit 1945 – Franz-Josef Strauß. ‚Rechts von der CSU darf es keine Partei geben‘. Hören Sie ihn noch? Er verantwortete (aktiv) die Spiegel-Affäre (‚Bedingt abwehrbereit‘ – Fallex 1962) oder fädelte den Honecker-Milliardendeal 1983 ein. Seine Debattenbeiträge waren oft legendär bis manchmal unterirdisch. Nun kann ich nicht sagen, ob die AfD-Leute ähnliches Potential besitzen. Darum geht es hier aber auch nicht. Die Überlegung zur nationalen Systemik will auf etwas anderes ausgehen.

Nach 1945 hat sich vieles an systemwidriger Denke in zum Teil hoch angesiedelte Entscheidungsebenen von Wirtschaft, Verwaltung und Politik durchgeschoben. Da wollte keiner so genau nachfragen, selbst das Bundesministerium der Justiz hat mit der Aufarbeitung dieser Vergangenheit erst in diesen Tagen begonnen: („Die Akte Rosenburg“ – Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, C.H. Beck, 2016. Zitat: „Die Ergebnisse sind bedrückend: Von den 170 Juristen, die von 1949 bis 1973 in Leitungspositionen des Ministeriums tätig waren, hatten 90 der NSDAP und 34 der SA angehört. Mehr als 15 Prozent waren vor 1945 sogar im Reichsjustizministerium der Nazis tätig.“) Die Liste anderer Institutionen ließe sich lange fortführen. Hier soll dieses Beispiel genügen. Anders gewendet: das Potential rechter Denke hat nie aufgehört, es war nur länger still und unsichtbar. Sie denken jetzt an: NPD, DVU, die Republikaner? Und wo sind die heute? Gut so!

Allerdings denke ich an etwas ganz anderes als rechtes Gedankengut hoffähig zu machen. Das zu entlarven, seine menschenverachtende Gesinnung, ihre populistische Bauernfängerei, dazu ist die Bühne des Bundestages ausreichend, sie zur Rede zu stellen und ihnen Lösungskonzepte abzuverlangen. Das bleibt einstweilen abzuwarten. Nicht abzuwarten bleibt indes anderes: viele Menschen, die „rechts“ gewählt haben, finden sich in diesem Land, in dem „wir gut und gerne leben“ (CDU-Wahlslogan für Angela Merkel), einfach nicht mehr zurecht. Sie fühlen sich abgehängt (bitte nicht voreilig stöhnen), als Verlierer, können die Schnelligkeit der Zeit und die Komplexität des Geschehens nicht mehr mitgehen, werden nicht ernstgenommen, können sich nicht artikulieren, weil wir sie vorschnell als nicht leistungs- und veränderungsbereite Klientel abtun, die lieber im Morgenmantel den Tag am Frühstückstisch verbringt als sich ins Getümmel zu stürzen, durch den Tag zu hetzen, über den Fitnesstracker Buch zu führen, sich in zig Aktivitäten zu verstricken, um überall mitreden zu können. Sie finden das absurd? Blicken Sie mal vorsichtig um sich, schauen Sie mal auf die „Aktivitäten“ der Kleinen. Das Bild ist nicht ermunternd. Und selbst für uns, die scheinbar alles „noch im Griff“ haben gilt: die zunehmende Komplexität und Kompliziertheit, verbunden mit einer sich dauernd erhöhenden Geschwindigkeit im Alltag, bringt auch uns an Grenzen: der Leistung, des Verständnisses, der Gesundheit, der Lebensfreude…

Setzen wir einen Gegenpol: nicht die globale Welt soll unser Zuhause sein, sondern das was wir als Heimat empfinden, vielleicht sogar lieben. Dabei dürfen Sie durchaus an Lederhosen und Gamsbärte denken oder auch an Friesennerz und Fischerhemd. Was lösen die damit verbundenen Bilder für gewöhnlich aus? Eben hatte ich kurz den Begriff Lebensfreude gebraucht. Wie wäre es jetzt mit einem Komplementärbegriff dazu: Sicherheit. Sie schütteln den Kopf? Oder nicken Sie vielleicht? Gut. Lebensfreude (Liebe) hat nach meiner Lebenserfahrung immer mit Sicherheit zu tun: Geborgenheit, Fürsorge, sich Kümmern, gemeinsames Erleben, den anderen Mitnehmen, ihn wertschätzen, Vertrauen schenken.

Gehen wir einen Schritt weiter: in einem Interview in der FAZ vom 07. Oktober 2017 erklärt Robert Habeck von den Grünen freimütig: „Heimat ist ein belasteter Begriff, ja. Und verhunzt durch den Nationalismus. Aber Begriffe verändern die Wirklichkeit. Deshalb kann die Auseinandersetzung über solche Begriffe auch neues Bewusstsein schaffen und sogar prägen. Ich bin sehr dafür, dass wir Grüne Begriffe wie Heimat und Deutschland nicht der AfD überlassen. Wir müssen sie mit unseren Geschichten füllen. (…) Wir müssen uns trauen, über Begriffe wie Heimat und Patriotismus zu reden, sie für uns zu reklamieren und sie definieren. Heimat ist der Raum, in dem wir leben und den wir gestalten, gleich woher wir kommen. Heimat ist unser Zusammenleben. Politik konkretisiert sich in Gesetzen, in Verordnungen, die den Rahmen für Handlungen vorgeben. Wir dürfen also nicht nur klug reden, sondern müssen auch eine kluge Politik entwerfen.“

Zusammengefasst könnte man Habeck so zitieren: Heimat ist nicht (nur) ein Ort, sondern ganz besonders und vielleicht zuvörderst sind es die Menschen, die mit uns gemeinsam diese Heimat gestalten. Das heißt: es geht darum zu integrieren, nicht auszugrenzen. Doch was ist dann mit den oben angesprochenen Gefühlen von Verlust, Angst, „Überfremdung“, Verteilungsgerechtigkeit? Wenn in ländlichen Räumen die letzte Infrastruktur eingestellt wird, die Menschen immobil werden, weil sie kein Auto haben, die Nahversorgung fehlt, dann wird Teilhabe immer schwieriger. Teilhabe aber ist ein Prozessstück von Integration. Fehlt diese, führt das zur Desintegration. Ein anderes Bild dazu: wenn wir bis auf unsere Haut entkleidet werden, verfrachtet auf einen fernen Stern – was bleibt uns dennoch? Unsere kulturelle Prägung. Die geben wir erst ab, wenn wir unseren letzten Gang antreten. Kulturelle Identität ist allerdings nichts hermetisches, zu allen Zeiten hat es Durchmischung, Überfremdung, oder auch den vollständigen Verlust von Kulturen gegeben, ein Beispiel sind die Etrusker, die von der römischen Kultur so vollständig aufgesogen worden sind, dass wir buchstäblich kaum noch Überreste der Etrusker finden, obgleich die römische Kultur in vielfältiger Weise aus ihren Grundlagen geschöpft hat. Wir befinden uns also in einem kontinuierlichen Veränderungsprozess. Der hat für alle erkennbar Fahrt aufgenommen und wird neben inneren (politischen) Verteilungskämpfen nun zusätzlich noch über die „Flüchtlingskrise“ verschärft. Verschärft? Nein, objektiv natürlich nicht, in den östlichen Bundesländern liegen die Migrationszahlen deutlich unter denen im Westen, regional sogar unter 2%. Vielleicht wird andersherum ein Schuh daraus: versetzen wir uns nochmal in die ländliche Gemeinschaft, wo die Infrastruktur wegbricht, kaum Arbeitsplätze entstehen, Männerüberschuss herrscht, nur die Alten noch bleiben. Zu diesen tatsächlichen Verlusten kommen Verlustängste hinzu: vor noch weiterer (negativer) Veränderung, vor dem Fremden, das meine Kultur bedroht (?), der Wut auf „die  da oben“, Eliten-Bashing, Echokammern, in denen man „Verständnis“ für das eigene Denken und Fühlen findet (das Netz ist voll davon). In diese Leere des ‚Entkümmerns‘ greifen die Populisten ein, sie holen die Menschen dort ab, wo sie sich alleine gelassen fühlen.

Doch es kommt etwas anderes hinzu, für das ich stellvertretend folgenden Leserbrief aus der FAZ (06.10.2017) zitieren möchte. Da schreibt eine Dame: „Ich bin keine AfD-wählerin, aber die hohe Zahl der AfD-Wähler und Motivation mit Antisemitismus und Fremdenhass (Steinmeier) zu erklären, zeigt diesen Wählern nur, dass ‚die da oben‘ ihnen nicht zuhören und ihre Wut falsch beurteilen. Ich habe hingehört: 1. Die ungeschützten Grenzen und die teils katastrophalen Folgen von islamistischem Terror. 2. Die nie in unserem Land dagewesene Sorge, bei Sportveranstaltungen und Festen Attentate befürchten zu müssen. 3. Die nie eingestandene Tatsache, dass die Terroristen oft Islamisten sind. 4. Die unverständliche Nichtabschiebung von Straftätern. 5. Keine Rede von „Wir haben Fehler gemacht“, was ein gerechtfertigtes, peinlich vermiedenes, aber sehr gut angekommenes Schuldanerkenntnis gewesen wäre. Das hat die Wut und das Bedürfnis geweckt, die Schuldigen mal ‚aufzuwecken‘. Wir wissen, dass viele AfD-Wähler nichts gegen die echten Hilfsbedürftigen haben, nur gegen die oben erwähnten und gegen die, denen die teils ungeschulten Behördenmitglieder ein Bleiberecht zugestehen, zum Beispiel Wirtschaftsflüchtlingen, durch die viele AfD-Wähler finanzielle Nachteile befürchten.“ Das hört sich doch ganz resolut und pragmatisch an oder? Hm. Auch dieser Beitrag ist in sich nicht ganz schlüssig, was dann letztlich nicht den Verständnishorizont, sondern den Gefühlshorizont bedient. Sie zweifeln? Also, wir wollen ihn an ein paar Punkten mal etwas dekonstruieren: Zunächst ist undifferenziert von „AfD-Wählern“ die Rede. Wir wissen aber, dass diese sehr unterschiedlich in ihrer Herkunft wie auch ihrer Ausrichtung sind (siehe dazu die Wähleranalysen). Dann: leider hat es auch bei uns immer wieder Anschläge auf öffentliche Veranstaltungen, Links- wie Rechtsterrorismus (RAF / NSU) gegeben, es hat die fürchterlichen Taten von Rostock-Lichtenhagen gegeben, von Solingen, München … Richtig ist zweifellos, dass nun etwas hinzugekommen ist, das den Menschen zu Recht Angst macht – islamistische Terroristen. Nicht richtig ist, dass ausländische (nichteuropäische) Staatsbürger nicht abgeschoben werden. Allerdings nicht in so umfangreichem Maß, wie sich das vielleicht mancher wünscht. Da ist die Wirklichkeit eben kompliziert: neben wir das Beispiel Marokko. Es hat lange gedauert bis ein Rücknahmeabkommen ausgehandelt war. Trotzdem nimmt das Land nur wenige Landsleute wieder auf. Was machen wir also mit denen, die wir nicht wieder dorthin überstellen können? Ich lasse das mal so stehen. Dann ein anderes Thema: klar die Politik macht es sich gerne leicht und spricht gerade über Fehler nur ungern. Auch ich würde das sehr begrüßen, eine politische Fehlerkultur! Wir alle können uns irren, sogar im Kollektiv (Beispiel: Brexit). Nebenbei: genau darum haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes auf Bundesebene keine Bürgerentscheide vorgesehen. Man stelle sich für einen Augenblick mal vor, eine politische Kraft in Deutschland würde die Nachkriegsgrenzen infrage stellen und durch Bürgerentscheid die Bundesregierung unter Druck setzen, Gebiete von unseren Nachbarn zurückzufordern. Finden Sie abwegig? Ich möchte das lieber nicht erleben. Aber ein aufgehetztes Gemeinwesen bekommt auch so etwas hin. Sehen Sie sich bitte die Erbitterung um Katalonien an. Aber zurück: nein, ‚aufwecken‘ kann man die Politik kaum, die ist schon wach, nur tut sie nicht immer das, was einem schmeckt. Woher wissen wir denn, dass viele AfD-Wähler die ‚echten‘ (was sind die ‚falschen‘?) Hilfsbedürftigen schützen und unterstützen möchten? Und Behördenmitglieder können kein Bleiberecht ‚zugestehen‘, (gemeint sind wohl: Entscheider) sie können und müssen im Rahmen ihres gesetzlichen Ermessenspielraum handeln (der gerichtlich zudem überprüfbar ist). Nochmal ein hm: sind die erwähnten Wirtschaftsflüchtlinge keine Flüchtlinge? Haben sie keine Zuwendung nötig? Ein Gedanke dazu: Bevölkerungs- und Klimawissenschaftler gehen in ihren Prognosen davon aus, dass wir aufgrund von beiden Entwicklungen bereits in den nächsten Jahren mit einem neuerlichen Ansturm zu rechnen haben. Alleine am Tschad-See sollen derzeit bereits 2,7 Mio. Migranten warten, die ihren Weg nach Europa finden wollen. Das sind oft Menschen, die über den Klimawandel von ihrer bisherigen Subsistenzwirtschaft abgeschnitten werden, die sich nicht mehr ernähren können. Aber sicher haben sie von Europa gehört… Mach meinem Dafürhalten werden wir noch Wellen von Flüchtlingsrecks bekommen. Die Gründe dafür sind so vielfältig wie bekannt. Dem können wir uns natürlich nicht einfach ‚ergeben‘.

Es sind Konzepte gefragt, die unsere Gesellschaft aushalten und bewältigen kann, dazu gehört zum einen das Verfassungsrecht auf Asyl und zum anderen ein Einwanderungsgesetz (etwa nach kanadischem Vorbild). Aber das reicht weit nicht aus: Es müssen etwa über die multinationalen Organisationen sowohl auf EU- als auch auf Weltebene (UNO) zwingende Konzepte erarbeitet werden, die diese Ströme kanalisieren bzw. für Ausweichstrategien sorgen. Das ist eine Mammutaufgabe und durchaus ein Mehrgenerationenprojekt. Wir lösen diese Komplexität nur gemeinsam oder gar nicht. Gar nicht heißt: alles dicht, bewaffnen und jeden anderen für einen Feind halten und so behandeln. Das ist einfach. Alles andere ist kompliziert und anstrengend. Doch aus der Sicht eines Humanisten und Christen dazu ein paar Denkanstöße:

  1. Diejenigen Länder, die sich durch „good governance“ hervortun, müssen massiv unterstützt werden.
  2. Es müssen Handels- und Entwicklungskorridore in Afrika geschaffen werden, die eine Selbstversorgung wie auch wirtschaftliche Prosperität untereinander ermöglichen.
  3. Europa und der Westen müssen massiv in faire-trade investieren, tarifäre und sonstige Hemmnisse real abbauen.
  4. Bevölkerungen müssen die Möglichkeiten einer selbstbestimmten Fertilitätsquote bekommen.
  5. Die Industrieländer müssen ihre Klimaziele umsetzen und diese fortschreiben. Ebenso sollen weltweit emissionsarme Wirtschafts- und Produktionsformen belohnt werden.
  6. Wir müssen uns Gedanken machen, wie weit wir unseren Ressourcenverbrauch zurückschrauben können.

Nur mal so zur Anregung. Leider eine Menge „wir müssen“. Aber schon ein ‚Muss‘ würde viel in Bewegung bringen – für uns alle. Zurück zum Ursprungsgedanken: wir erleben im Kleinen wie im Großen massive Transformationsprozesse. Die schaffen Verunsicherung, Ängste. Doch es gibt auch einen ‚Gegenmittel‘: Vertrauen, Zutrauen, Kümmern, sich einbringen. Das fordern wir von der Politik; von uns ist es ebenso gefordert. Das ist keine Einbahnstraße und delegieren lässt es sich auch nicht.